Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
Vom Netzwerk:
voller Schwindel und Rauschen. Aber dann plötzlich eine Schärfe und Klarheit in jedem meiner Blicke, als ob ich erst begreifen müsste, dass ich noch da bin, und schwups geht einfach alles weiter.
    Ich falle am liebsten, wenn ich alleine bin, ohne Publikum. Denn ich werde nicht gerne aufgehoben und erst recht nicht aufgefangen.
    Oder doch.
    Um ehrlich zu sein.
    Es gibt nichts Schöneres, als aufgefangen zu werden.
    Und in tragenden Händen zu liegen.
    Aber das zu sagen, würde ich mir nie erlauben. Denn Nähe ist Schwäche. Und es ist eine aussichtslose Sucht, sich nach etwas zu verzehren, das man nicht ertragen kann. Also muss ich alleine aufstehen, denn niemals, so heißt es, niemals darf man am Boden bleiben, wenn man gefallen ist.
     
    Dann kommt die Nacht, in der ich aufwache, weil etwas Warmes über meine Wangen streift. Ich hätte die Augen zulassen und mir vorstellen können, es sei ein leuchtender Engel mit goldenen Flügeln, der mich auserkoren hat, mit ihm einen neuen Stern zu erobern. Aber ganz so verrückt bin ich dann doch wieder nicht, also öffne ich meine Augen, taste im kühlen Mondlicht nach meinem Gesicht und fühle etwas Feuchtes und Klebriges.
    Blut sieht im Dunkeln ziemlich schwarz aus. Aber im Dunkeln sieht irgendwie alles ziemlich schwarz aus – und Blutgruppen sind nichts weiter als unsichtbare Nachtgestalten.
    Ich schmecke den metallischen, salzigen Geschmack zuerst auf meinen Lippen, dann überall in meinem Mund und in meiner Kehle, und schließlich spüre ich einen stechenden Schmerz, von dem ich nicht sagen kann, ob es mein Herz ist, meine Nieren, mein Magen oder mein Kopf.
    »Wahrscheinlich alles«, denke ich.
    Dann erbreche ich einen Schwall Blut über mein Bett.
    »Diesen Bezug mit den komischen, blaugrünen Streifen drauf fand ich sowieso hässlich, erst neulich wollte ich ihn wegwerfen«, sagt eine Stimme in meinem Kopf.
    »Wo soll ich jetzt schlafen?«, überlege ich derweilen. »Kann man blutgetränkt schlafen? Oder kommen dann sofort die ersten Fliegen und Aasgeier?«
    Vorsichtshalber mache ich das Fenster zu. Alles dreht sich. Ich spucke noch einen Schwall Blut auf das Fensterbrett und sehe zu, wie es leise blubbernd herabtropft.
    »Oh, oh«, denke ich, »mein Ende. Jetzt ist auch der Fußboden rot. Wenn ich die Nacht überlebe, muss ich das morgen alles wegwischen – aber wenn ich sterbe, muss es jemand anders machen.«
    Dann lege ich meinen Kopf auf einen sauberen Zipfel der Decke, wische mir mit der rechten Hand, so gut es geht, das Blut aus dem Gesicht und höre meinem ratternden Herzen zu. Es pocht und pocht.
    Genau wie der Schmerz in mir.
    Irgendwann schlafe ich ein.
     
    Merkwürdigerweise wache ich am nächsten Morgen wieder auf. Und merkwürdigerweise bin ich vollkommen ruhig. Ich bekomme nicht einmal einen Schock wegen der blutigen Sauerei, in der ich mich befinde. Dabei sollte ich eigentlich müde sein oder zumindest fertig von dieser erbärmlichen Nacht. Verunsichert suche ich nach etwas, das nicht mehr funktioniert. Aber ich kann meine Arme bewegen und meine Beine. Ich kann atmen, schlucken, husten, mich aufsetzen, mich wieder hinlegen und den Bauch einziehen.
    Alles ist okay.
    Ich bin ein bisschen überrascht, aber nicht so sehr, dass es mich aus der herrlichen Ruhe reißen könnte. Vielleicht stehe ich einen Schritt zu weit neben mir. Noch weiter als sonst. Und vielleicht rutsche ich deshalb plötzlich ab und falle in die Hände einer fremden, gefühlskalten Stimme, die Macht über mich besitzt und so ehrlich ist, wie man sein kann – weil sie nichts zu verlieren hat.
    »Du wirst sterben«, sagt sie.
    Ich ordne der Stimme eine ausdruckslose Miene zu.
    »Bald schon«, ergänzt sie gelassen.
    Ich nicke. So weit kann ich selbst denken, inmitten der blutgetränkten Bettwäsche liegend.
    »Ich könnte dich anschreien«, fährt sie fort. »Aber ich nehme an, dass du mir auch so zuhören wirst, denn es redet ja sonst keiner mit dir.«
    Sie hat recht. Natürlich. Ich höre ihr zu. Jedes einzelne Wort von ihr klingt in mir weiter. Ich bin es gewohnt, umgeben von Stimmen und Stimmen nach meiner eigenen zu suchen. Und da sie meine Gedanken lesen kann, lächelt die Stimme berechnend und sagt:
     
    Stay strong, starve on
    is that what you call beauty?
    Ana till the end – sounds tender on your lips.
    Ana till the end – means nothing on your hips.
    But in the end, I know, you will see:
    Ana is not the girl you wanna be.
     
    Die Stimme in meinem Kopf verneigt sich

Weitere Kostenlose Bücher