Splitterfasernackt
Caitlins Mutter war dabei, ihre Nägel zu feilen, während meine Mutter ganz vertieft in ihr Zen-Buch war.
»Was machst du da?«, habe ich Caitlin gefragt, weil ich sie so schön und aufregend fand, wie sie einfach regungslos dastand, am grasbewachsenen Ufer, wie eine Fee, mit ihren langen gewellten goldblonden Haaren in dem sonnengelben Kleidchen.
»Mein Ball ist ins Wasser gefallen«, hat die kleine Fee zu mir gesagt und wurde mit einem Mal sehr menschlich.
»Das tut mir leid«, habe ich geantwortet und mit den Augen den See abgesucht, bis ich ganz in der Mitte einen kleinen Gummiball treiben sah.
»Ja«, hat die Fee mit ihrer hellen Stimme gesagt, »mir auch. Es war ein Geburtstagsgeschenk von meiner großen Schwester. Ich bin jetzt nämlich schon fünf.«
»Ich auch«, habe ich glücklich erwidert und mir überlegt, dass die schöne Fee und ich vielleicht Freundinnen werden könnten.
»Wie heißt du?«, wollte ich deshalb wissen.
»Caitlin«, hat sie geantwortet und ihre goldenen Haare in den Nacken geworfen. »Und du?«
»Lilly«, habe ich gesagt.
»So würde ich auch gerne heißen«, hat Caitlin erwidert.
»Ich würde lieber Caitlin heißen«, habe ich gesagt.
Und dann haben wir uns zusammen ans Ufer gesetzt und auf ihren Ball gewartet. Als er endlich zurückgetrieben kam, war meine Mutter mit ihrem Buch schon fast fertig, und Caitlins Mutter war immer noch mit ihren Nägeln beschäftigt.
»Bist du morgen wieder hier?«, hat Caitlin zum Abschied gefragt.
»Klar«, habe gesagt.
»Dann also bis morgen?«
»Ja, bis morgen!«
Caitlin hat mir zum Abschied einen feuchten Kuss auf die Wange gedrückt, weil sie gesehen hatte, dass ihre Mama das immer mit ihren besten Freundinnen macht und weil gemeinsam am Wasser sitzen und hoffen, dass der Wind in die richtige Richtung weht, nun einmal verbindet.
Am nächsten Tag haben wir uns wieder getroffen und unsere Kleider getauscht. Dann sind wir zusammen auf einen Baum geklettert, Caitlin in meinem blauen Kleid mit dem Frosch auf der Brust und ich in ihrem rosa-weißen Kleid mit der Prinzessin über dem Saum. Wir haben gespielt, dass unter uns sieben hungrige Alligatoren lauern, von denen einer besonders böse ist, und wir deshalb nicht mehr von dem Baum herunterkönnen. Seitdem sind wir die besten Freunde auf der Welt, auch wenn wir uns manchmal eine Ewigkeit nicht sehen, weil eine von uns beiden irgendeine Störung hat, die man nicht teilen kann.
Caitlin war trotzdem immer der Mensch, von dem ich ganz genau wusste, dass ihre und meine Kinder – falls wir irgendwann einmal welche haben würden – eines Tages zusammen Bälle in den Lietzensee werfen würden, während wir auf einer bunten Picknickdecke danebensitzen und lachen würden.
Ich schnappe mir also mein Handy, setze mich auf mein Fensterbrett und wähle Caitlins Nummer. Ihre Schwester Hannah nimmt ab, und ich bin etwas verwirrt.
»Oh, Lilly«, sagt Hannah.
»Hey, Hannah«, sage ich, »hast du Caitlins Handy geklaut?«
»Nein«, sagt Hannah, und ihre Stimme klingt komisch. »Nein, habe ich nicht.«
Dann sagt sie nichts mehr.
Dann schluckt sie und räuspert sich.
Dann höre ich sie schniefen.
Schließlich weint sie. Und dann sagt sie mir, dass ich Caitlin nicht sprechen kann.
Weil Caitlin tot ist.
Und mit Toten kann man bekanntlich nicht telefonieren.
Ich lege schnell auf. Denn wenn ich schnell genug auflege, dann wird das Gespräch wieder aus meinem Kopf gelöscht, und ich kann weiterleben wie zuvor. Das glaube ich. Ganz fest. Ich sitze fünf Minuten bewegungslos da und warte ab, ob es funktioniert.
Aber es funktioniert nicht.
Also öffne ich das Telefonbuch in meinem Handy, tippe mich bis zu Caitlins Namen durch, drücke auf »Details« und starre ihre Nummer an. Die Zahlen verschwimmen vor meinen Augen, sie verlieren ihren Sinn. Ich muss sie löschen.
»Kontakt wirklich entfernen?«, fragt mich mein Handydisplay.
Rechts bestätigen, links abbrechen.
Mein Daumen ruht bewegungslos auf der rechten Taste.
Ich werde Caitlins Nummer nie wieder brauchen.
Nie wieder.
Also bestätige ich.
Auf der Beerdigung sind unglaublich viele Menschen. Nur ich nicht. Ich sitze im Grunewald auf dem Baum, auf dem Caitlin und ich als Kinder ein Baumhaus bauen wollten, wozu es aber nie gekommen ist, weil wir jedes Mal mittendrin die Lust verloren haben oder die Nägel und den Hammer zu Hause vergessen hatten. Dort sitze ich nun, neben einer morschen Sperrholzplatte, klammere mich an einen Ast,
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