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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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immer ausgekotzt oder weggeworfen. Wie dumm von mir. Ich hätte sie aufbewahren können, als Andenken. Ich hätte heute einen kleinen Berg voller Schokoriegel.
    Doch wozu.
    Wozu?
    Zu Hause angekommen, stelle ich das Osterkörbchen bei meinen Nachbarn vor die Tür und beschäftige mich ein bisschen mit meinen Rasierklingen. Wenn ich mir die Arme aufschlitze, verzeihe ich mir manchmal, dass ich gestorben bin; dass ich zu klein war und
er
zu groß.
    Ich sage »Entschuldigung« zu mir, ganz leise und sanft. Ich spreche immer behutsam mit mir, als hätte ich Angst davor, mich zu verletzen. Danach streiche ich zaghaft über meinen blutenden Arm und flüstere mir ins Ohr: »Ich habe dich trotzdem lieb, ganz ehrlich.«
    Aber diese Lüge durchschaue ich.
    Merkwürdig, wie besessen man von seinen verstaubten Lasten sein kann. Wie sehr man sich festkrallen kann an etwas, das man längst hätte loslassen sollen. Es ist erstaunlich, wie oft man bei dem Versuch, eine Gurke in Scheiben zu schneiden, abrutschen und Wunden auf seiner Haut zurücklassen kann.
    Immer und immer wieder.
    Aber dafür lasse ich wenigstens meine blutrünstigen Finger von meinen Pulsadern. Denn ich will nur den Schmerz in mir erträglicher machen, ich will ihn laut und pochend fühlen, nicht leise und zitternd im Hinterkopf. Mein Körper liegt vor mir, zerbrochen, verwundet. Ich hebe ihn nicht auf oder halte ihn fest, ich zucke nicht ein einziges Mal mit der Wimper, wenn ich ihn zur Seite stoße. Ich zeige keine Schwäche. Ich lasse ihn einfach liegen und gehe lässig weiter. Mein Herz schlägt bittend. Aber ich ignoriere es.
    Zuneigung ist nichts, was ich mir schenke.
    Und Achtsamkeit ist kein Reflexivpronomen.
     
    Das Schweigen, das mich umgibt, ist nicht lautlos. Es brüllt und dröhnt und ist voll von fremdem Geflüster. Ich höre das Rauschen ganz deutlich, es ist lauter als jede Musik. Ich lasse die Abgrenzungen vor mir Stellung beziehen, bin gefangen in ihrem Bann und beobachte, wie alles andere, fernab, an mir vorbeizieht. Was auch passiert, wohin ich auch gehe, diese unausgesprochenen Worte werden für immer da sein und mich beharrlich anschweigen. Sie legen sich um mich wie ein Schleier, und ich trage ihn mit Bedacht, weil er mich verhüllt vor der Wahrheit.
    Aber irgendwann wird er fallen.
    Und ich mit ihm.

5
    I n Ohnmacht fallen wird zu meinem neuen Lieblingshobby. Schade nur, dass ohnmächtig werden kein Leistungssport ist. Ich wäre mittlerweile reich und berühmt und würde bis zum Hals in Medaillen und Pokalen feststecken. Denn niemand sonst fällt so schön wie ich, niemand sonst fällt so überzeugend, und niemand sonst fällt so wunderbar lautlos. Eine winzige Erinnerung oder ein einziges falsches Wort reichen vollkommen aus, um mich zum Fallen zu bringen. Wie in einem zerstückelten oder ungeschnittenen Film rasen in meinem Kopf die dunklen Bilder hin und her. Ich höre seine Stimme, ich höre ihn sagen: »Runter auf den Boden!«, »Halt die Klappe!«, »Halt endlich deine verdammte Klappe!«, »Sieh mich nicht so an!«, »Verdammte Scheiße, hör auf zu jammern!«, »Ich bring dich um, wenn du noch einmal schreist!«
    Ich höre seine Worte ganz nah an meinem Ohr, ich bin mir sicher, wenn ich mich umdrehe, dann steht er da, direkt hinter mir, und sieht mich an aus rabenschwarzen Augen. Ich höre auf zu denken, ich schalte alle Erinnerungen ab. Ich vergesse, was war, ich vergesse alles, was ist, ich weiß nicht mehr, ob je wieder irgendetwas sein wird, außer der Stille.
    Und meine Stille ist seerosenblütenweiß. Sie schwankt auf winzigen Wellen, auf einem dunklen kühlen Teich. Ich schweige ihr entgegen. Dann wache ich auf. Manchmal schon in dem Moment, in dem der letzte Teil meines Körpers den Boden berührt, dann spüre ich den Aufprall, einen tauben Schmerz, der nicht mir gehört, er ist nur geliehen. Aber manchmal dauert es und dauert, während ich mein Gesicht ganz sanft an eine Seerosenblüte lege und lausche, ob es doch noch etwas anderes gibt als lautloses Rauschen.
    Vielleicht ist das mein Sterben, vielleicht wache ich eines Tages gar nicht mehr auf – und das Letzte, was ich vollbracht habe, ist ein weiterer großartiger Fall. Bisher habe ich meine Augen immer wieder geöffnet, meinen brummenden Kopf vom Boden gehoben, eine blutige Lippe achtlos mit dem verstauchten Handrücken abgewischt und den wohlbekannten Blutgeschmack im Mund wie von weit her wahrgenommen. Im ersten Moment noch auf weichen, fremden Beinen gestanden,

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