Splitterfasernackt
Also noch fetter, als ich mich sowieso immer fühlen werde, solange meine Waage Zahlen im positiven Bereich anzeigt.
In dem Moment, in dem ich vor Caitlins Grabstein zum Stillstand komme, fühlt sich der Wind, der mich streift, wie aus einem gruseligen Märchen an. Ich bin überrumpelt. Vielleicht habe ich gedacht, ich würde den ganzen Tag auf dem Friedhof umherirren, bis ich schließlich vergessen hätte, warum ich eigentlich dort bin. Mein rechter Arm schmerzt von der Schlepperei, ich nehme wahr, wie sich der Henkel in meine Finger gebohrt hat, sie lassen sich kaum noch bewegen.
Aber das ist ein Satz, den man streichen kann.
In diesem Zusammenhang.
Hängt er unbedeutend im Geschehen.
Ich möchte den Eimer erleichtert absetzen, aber stattdessen kralle ich mich so angespannt an ihm fest, als würde es irgendetwas ändern. Der Regen wird weniger, er wandelt sich zu einem sanften Tröpfeln. Ich könnte weinen – im Regen würde es keiner sehen.
Aber ich tue es nicht.
Dann knie ich mich auf den durchweichten Boden vor dem Grabstein, setze den Eimer vorsichtig ab, schiebe ein paar Blumen zur Seite, und beginne wie von fremder Hand geführt, mit der roten Plastikschippe ein Loch zu graben. Der Regen läuft mir über den Nacken und weiter meinen Rücken hinab, meine Hände und Oberarme sind von schwarzen Erdmatschspritzern bedeckt, und meine Knie werden eiskalt von dem durchweichten Boden unter mir.
Nach fünfzehn Minuten, die mir vorkommen wie mindestens eine Stunde, bin ich der Meinung, dass mein Lietzenseeloch tief genug ist. Aber ich buddele trotzdem noch ein bisschen weiter. Denn auf dem Friedhof sollte man todsicher sein.
Anschließend falte ich den Delphinduschvorhang ein paarmal zusammen, drücke ihn in das Loch und forme ihn an den Wänden hoch, so dass ringsherum etwas davon übersteht. Aus meiner zentnerschweren Handtasche krame ich Caitlins Urlaubs-Steinsammlung hervor, die mir Hannah neulich vorbeigebracht hat, und lege die weißen Kleinformatfelsen anschließend auf die Ränder des Duschvorhangs, rund um das Loch herum. Dann streue ich ein bisschen Erde dazwischen, damit es auch echt aussieht. Schließlich kippe ich vorsichtig das Lietzenseewasser hinein und frage mich, ob Caitlin wohl gerade vom Himmel aus zuguckt.
Zuunterst in meiner Tasche ist noch eine kleine Holzente und ein winziger, buntgestreifter Gummiball. Ich werfe den Ball mitten in den See, blicke einen Moment auf die leichten Wellen und entschuldige mich bei Caitlin, weil ich keinen roten Ball mit weißen Punkten gefunden habe, so wie ihren damals. Dann nehme ich die Holzente in beide Hände, setze sie sanft auf den kleinen Lietzensee und stupse sie an, damit sie eine Runde schwimmen kann.
Ich stehe auf und betrachte mein Werk.
Caitlin steht nicht neben mir.
Das weiß ich. Zu genau.
Es gibt Dinge, die will man nicht wissen. Es gibt Menschen, die wird man für immer vermissen. Und die Zeit, sie tanzt auf einem gebrochenen Bein – wenn ich nach ihr greife, hinkt sie davon.
Das war es also. Was bleibt zu tun?
Abschied nehmen.
Denn ich kann nicht für immer hierbleiben. Der Regen wird aufhören, irgendwann, und dann muss ich mir eine neue Freundin suchen. Eine andere. Eine lebendigere.
Ich gehe einen Schritt zurück. Weiter komme ich nicht.
Ich starre auf den Grabstein. Dort steht nur Caitlins Name. Und die Zeit, in der sie hier gewesen ist. Irgendetwas fehlt. Jeder Mensch braucht ein paar Abschiedsworte auf seinem Stein, auch wenn sie schief geschrieben sind. Also krame ich in meiner Handtasche herum, finde den wasserfesten, kussechten, dunkelroten Lippenstift, den ich nie benutze, gehe wieder einen Schritt vor und lehne mich über den See, um mit wackeliger Schrift und in kleinen Buchstaben auf den grauen Grabstein zu schreiben: »Im Leben wie im Tod finden wir unser Ende. Wir steigen, wir fallen, wir schlafen, wir wachen. Und irgendwann sind wir da.«
Mehr fällt mir nicht ein.
Mein Kopf fühlt sich seltsam taub an. Der Regen ist mittlerweile noch stärker geworden, er umhüllt mich, entfremdet mich – er deckt mich zu. Und die Holzente auf dem Lietzensee schwappt hin und her.
Ich frage mich, ob mir kalt ist und ich es einfach nicht merke. Ich frage mich, ob ich dumm bin, weil ich mich umbringe, jeden Tag ein Stückchen mehr, obwohl ich die Chance habe zu leben. Und ich frage mich, ob die Toten um mich herum alle sauer auf mich sind, weil ich etwas habe, das sie nicht mehr haben, und weil ich so achtlos damit
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