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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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und Kreuze auf der Innenseite meines Oberschenkels, die Wunden sind rot und blutig. Ich bin gezeichnet, denke ich. Ich bin gezeichnet, denke ich ein zweites Mal. Und dann ein drittes Mal. Wie ein Echo in meinem Kopf, das mit jedem Nachhall verschwommener wird.
    »Als Erinnerung für die verlorene Zeit?«, frage ich das Floß.
    Aber es ist wohl schon zu weit weg und antwortet mir nicht mehr.
    Ich schließe die Augen. Das Licht im Badezimmer ist so grell, und ich bin zu müde, um weiter zu blinzeln. Aber dann berührt etwas meine Hand, und ich muss die Augen erneut öffnen. Es ist das kleine Mädchen, es steht vor mir und rührt sich nicht.
    »Du schon wieder«, sage ich.
    Das kleine Mädchen erwidert nichts, es sieht mich nur stumm und nachdenklich an.
    »Was ist?«, frage ich. »Willst du, dass ich die Zeit zurückdrehe, die Tür auftrete, ins Zimmer gestürmt komme, ihn von dir runterreiße, dich hochhebe und davontrage, bis du in Sicherheit bist? Soll ich dich in meine Arme schließen und streicheln, dir sanfte Worte ins Ohr flüstern und dir versprechen, dass so etwas nie wieder passieren wird, dass alles gut werden kann und du zu einer wundervollen jungen Frau heranwachsen wirst, die sich nicht mit einem beschissenen Floß unterhält?«
    Das Mädchen legt den Kopf zur Seite und scheint meine Worte sorgfältig abzuwägen. Vielleicht ist es zu jung, um Sarkasmus zu verstehen, oder vielleicht bin ich gerade zu tot, um mich deutlich auszudrücken. Doch dann nickt das Mädchen kaum wahrnehmbar, weicht einen Schritt von mir weg und verschwindet.
    »Hey«, will ich sagen, »wo gehst du hin?«
    Aber ich sage es nicht. Ich sage gar nichts. Nur in meinem Kopf kann ich reden. Meine Lippen sind zu trocken, zu erfroren, zu aufgesprungen, zu blutig. Außerdem weiß ich, wohin das Mädchen geht. Zurück nach unten. In den ersten Stock. Wo es vergraben liegt, bis mir der Zauberspruch einfällt, der es erlöst.

[home]
    ZWISCHENSPIEL
    1
    M ein Zuhälter heißt Eriko und hat ein breites Froschgrinsen in seinem Gesicht, wenn er lacht. Und er lacht ziemlich viel – dabei hatte ich immer gedacht, Zuhälter würden die meiste Zeit eher grimmig, gefährlich oder gangstercool dreinblicken. Aber denken ist nicht wirklich meine Stärke.
    Nicht mehr.
    Erikos Augen sind dunkelbraun oder hellschwarz, je nachdem, aus welchem Betrachtungswinkel man ihn ansieht, sein Körper ist kräftig, aber eher rundlich als muskulös, und seine Stimme klingt freundlich, mit einem etwas abgebrühten Unterton.
    Ich kann vor ihm stehen, ohne in Ohnmacht zu fallen, obwohl er ein Mann ist.
    Das nenne ich Fortschritt.
    Als Eriko mich zum ersten Mal sieht, fragt er: »Sag mal, bist du ganz sicher, dass du schon achtzehn bist? Und siebzehneinhalb zählt übrigens nicht.«
    »Ich bin einundzwanzig«, sage ich.
    Eriko zieht überrascht eine Augenbraue hoch, aber ich zeige ihm meinen Ausweis, und da glaubt er mir.
    »Ich hätte dich eher auf fünfzehn geschätzt«, meint er kopfschüttelnd.
    Aber das bin ich gewohnt. Denn merkwürdigerweise sehe ich nach all den Jahren, in denen ich so viel erlebt habe, dass ich mir schon vorkomme wie mindestens hundertundvier, immer noch aus wie ein Teenager. Vielleicht weil ich mich nie schminke oder weil mein Herz als Kind zerbrochen ist und ich seitdem in einer Zeitschlaufe feststecke. Was macht es da für einen Unterschied, wenn man einen Personalausweis besitzt, um das Gegenteil zu beweisen.
    Aber Zahlen sind sowieso nur verformte Buchstaben – letztendlich erzählen sie immer eine Geschichte. Sonst hätten sie keinen Wert.
    Weder auf dem Strich.
    Noch darunter.
     
    Eriko und ich sitzen im Begrüßungszimmer, das Licht ist wie in allen Räumen spielerisch warm, und es legt sich so sanft auf meine Haut wie eine Seidenstrumpfhose. Eriko trägt ganz normale Straßenklamotten und sieht aus wie der nette Nachbar von nebenan – mit Familienkombi in der Garage und Holzschaukel im Vorgarten. Ich hingegen trage ganz normale Bordellkleidung: schwarze Strapse und darüber ein weißes Shirt. Die anderen Mädchen wuseln die meiste Zeit über einfach in Reizwäsche oder in durchsichtigen Kleidern herum, und eine Gelassenheit und Ruhe liegt in den Räumen, die schwer zu beschreiben ist. Mit keinem Wort auf der Welt könnte ich einen Satz anfangen, der nackt und gleichzeitig angezogen genug ist, um darzulegen, wie es sich anfühlt, ein Teil davon zu sein.
    Vielleicht ist es die Ironie einer perversen Macht, dass ich mich in einem Bordell

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