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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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Antwort schuldig bleiben. Und es wäre für einen Moment ziemlich still zwischen uns. Aber Lady ist nicht hier. Sie trifft sich gerade mit Andreas oder Mike oder Janis oder Jimmy oder Georg oder Kevin. Vielleicht auch mit allen auf einmal. Bei Lady weiß man das nie so genau.
    Ich stehe also auf, setze mich wieder auf meinen Stuhl, an den Schreibtisch und schreibe einfach drauflos. Denn was macht es schon aus, was verändert es.
     
    Der fehlende Tag.
Es ist Frühling, aber die Luft riecht noch immer nach dem letzten Winter, und die Sonne glitzert unsicher und halb versteckt von einem wolkenlosen Himmel auf meine viel zu blasse Haut herab. Ich bin siebzehn Jahre alt. Die Straßen um mich herum sind leer, denn es ist unter der Woche, und die Mittagszeit ist gerade vorbei. Die anderen Menschen sind wahrscheinlich alle bei der Arbeit oder in der Schule und machen das, was zurechnungsfähige Menschen so tun.
    Ich selbst stehe neben einer Straßenlaterne vor dem Haus, in dem meine Therapeutin ihre Praxis hat.
    »Du wirst schon sehen, es wird immer leichter«, hat meine Therapeutin heute zum Abschied gesagt und mich dabei angelächelt, als wäre ich nicht gestört.
    Ich habe zurückgelächelt.
    Denn es ist einer dieser Tage, an denen ich alles glaube, was ich mir gerade wünsche. Und das ist eine ganze Menge.
Zuversicht
wäre eine gute Überschrift, wenn meine Tage Namen hätten. Aber das haben sie nicht, denn wer kennt schon so viele Worte.
    Ein leichter Wind weht, er kitzelt mich im Nacken, als würde er mich kennen. Ich fahre mit dem Fahrrad nach Hause, und meine offenen Haare flattern mir ums Gesicht. Ich erinnere mich daran wie an einen Traum, den man immer und immer wieder träumt, jedes Mal mit anderen Bildern, aber in genau den gleichen Farben. Ich bin glücklich, denn für diesen Augenblick weiß ich mit Sicherheit, dass ich ganz normal zur Schule gehen und mein Abitur machen werde, dass ich aufhören kann zu verhungern und dass ich nicht für immer vor mir selbst weglaufen muss. So etwas zu wissen gehört nicht gerade zu meinem Fachgebiet, aber in den Momenten, in denen ich es weiß, weiß ich es besser als jeder andere.
    Ich fahre an einem Spielplatz vorbei, auf dem ich als Kind gerne gespielt habe, und dann biege ich auch schon in die Straße ein, in der ich wieder wohne, seit ich aus dem Heim ausgezogen bin. Es ist schön, ein richtiges Zimmer zu haben – ein Zimmer, in dem man von der Mitte aus mehr als zwei Schritte in jede Richtung laufen kann, ohne gegen eine Wand zu stoßen. Und ich bemühe mich hingebungsvoll, mir einzubilden, dass meine Eltern mich schrecklich lieben. Es funktioniert zwar nicht, aber ich schaffe es, in die Badewanne zu steigen und wieder herauszuklettern, ohne mich zwischendurch zu ertränken. Was will man mehr.
    Während ich mein Fahrrad anschließe, hält ein junger Mann einen Baumstamm weiter, stellt seinerseits sein Fahrrad dort ab und geht zur Haustür, um zu klingeln. Er lächelt mir zu, als ich kurz nach ihm zur Tür komme, aufschließe und ihn mit hereinlasse. Ich bin es gewohnt, fremden Menschen unsere Haustür aufzuhalten, im ersten Stock unterrichtet ein Musiklehrer, und im zweiten Stock hat ein Anwalt seine Kanzlei, deshalb gehen ständig unbekannte Leute bei uns ein und aus. Ich denke mir nichts dabei, es ist reine Routine, es ist ein Stückchen Höflichkeit, es ist vollkommen okay.
    Ich fühle noch die funkelnde Sonne.
    Auf meiner weißen Haut.
    Aber in dem Augenblick, in dem ich die Tür loslasse und anfange, die Treppen hochzusteigen und die Gegenwart des Mannes hinter mir spüre, habe ich ein Gefühl in meinem Bauch, das zappelt und winkt und ruft. Es rüttelt mich unsanft, umgreift mit eisigen Händen meine Brust, zerrt an mir und fleht drängend: »Lauf!«
    Ich will rennen oder schreien. Aber meine Beine machen auf einmal nicht mehr das, was ich von ihnen möchte. Ich öffne den Mund, aber bringe keinen Ton hervor. Ich will atmen, aber die Luft hat sich verändert, sie funktioniert nicht mehr. Bin ich das? Ein Goldfisch in einem ausgetrockneten Aquarium, das mitten im Meer treibt, wäre nichts gegen mich. Es wäre lustig, wenn es lustig sein könnte.
    Und dann steht es vor mir. Das kleine Mädchen, zerbrechlich, mit langen braunen Haaren, zu Zöpfen geflochten, in einem weißen Kleid mit Erdbeeren darauf. Ich wünsche mir, dass es lacht. Aber das kleine Mädchen lacht nicht. Es sieht mich nur an mit seinen riesigen traurigen Augen.
    »Was hast du getan, wie konnte

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