Splitterfasernackt
wenn sie überall Kondome und einen Schuhkarton voll mit Geldscheinen finden?
Wenn ich den perfekten Abgang mit Ana hinlege, dann verreckt meine Seele hungrig. Wenn ich jetzt sterbe, dann habe ich ungefähr hundertmal umsonst gefickt.
Was für eine Verschwendung.
Meiner selbst.
Aber vielleicht habe ich Glück, und es gibt Varianten meiner Zukunft. Vielleicht gibt es eine bessere Version als die, in der ich viel zu früh, leichenblass und bewegungslos in einem Sarg unter der Erde verkomme. Ich könnte zum Beispiel fünfunddreißig Jahre alt werden, meine glänzenden langen Haare würden in der Sonne schimmern und in leichten Wellen über meine Schultern hinabfallen. Ich hätte Brüste und deshalb mindestens zehn BHs in meiner Kommode. Ich würde in einer großen und hellen Dachgeschosswohnung mit abgeschliffenem Parkettboden und exotischen Grünpflanzen wohnen. Jeden Morgen würde strahlendes Licht durch meine Fenster zu mir hereinfallen und mich wecken. Ich hätte eine wunderschöne Aussicht über Berlin, ich hätte einen Aufzug, der nie kaputt wäre. Oder ein Treppenhaus, vor dem ich keine Angst habe.
Mein Mann wäre alles das, was ich je wollte. Er würde mich lieben, obwohl er genau wüsste, wie viel Zeit ich noch immer damit verbringe, auf einer Waage hin und her zu trappeln. Er würde zu mir stehen, egal, wie viele Muffins ich in ihre Grundmoleküle zerkrümeln würde, egal, wie sehr ich den Kühlschrank hassen müsste, egal, wie hilflos ich nachts aus dem Bett und auf die kalten Badezimmerfliesen flüchten würde. Ob ich nun stundenlang Gemüse zerschnippeln, kalorienfreies Knäckebrot kaufen, auf dem Fensterbrett tanzen, oder ob ich gegen unsere Wände laufen würde – er hätte den Mut, mir zu sagen, dass ich trotzdem umwerfend sei und dass er auch noch da sein würde, wenn ich fertig damit bin, mich wegzuwerfen.
Er würde es mir verzeihen, wenn ich immer nur die Hälfte von dem essen könnte, was er für mich gekocht hätte. Er würde darüber hinwegsehen, dass ich ihm manchmal nur bedingt zuhören könnte, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt wäre, mich mit Mia zu streiten oder Ana eine Rechtfertigung nach der nächsten zu geben.
Ich hätte meinen Traumberuf, ich hätte meinen Traummann, ich hätte mein Traumzuhause, und natürlich würden meine Eltern jeden Tag vorbeikommen, um mir zu sagen: »Wir lieben dich! Und wir sind so stolz auf dich!«
Vielleicht könnte Caitlin eines schönen Tages wieder auferstehen, und wir könnten nachts um drei bei mir in der Küche stehen und eine Torte mit rosafarbenem Zuckerguss und Marzipanblüten darauf backen. Ich wäre so glücklich, wie man nur sein kann, ich würde begreifen, dass es nicht wichtig ist, jede einzelne Rippe unter der Haut hervorstechen zu sehen.
Ich würde es irgendwann wagen, Ana mit einem Tritt vor meine Tür zu befördern und Mia gleich mit. Ich würde den beiden die Stirn bieten und jeden Tag einen winzigen Schritt weiter zu mir selbst und zu den schrecklichen Kilos kommen, die ein Recht darauf haben, Platz in dieser Welt einzunehmen.
Das bin ich.
In der lebendigen Version in etwas mehr als zehn Jahren.
Es sei denn, die andere Version behält recht.
Dann bin ich tot. Oder drogensüchtig oder dauerbesoffen oder immer noch eine Nutte.
Wie auch immer.
Heute Abend jedenfalls werde ich, wie an jedem anderen Abend auch, um drei Uhr nachts in mein Bett kippen, mit schmerzendem Kopf und leerem Magen. Dann werde ich in einen tiefen, traumlosen Komazustand fallen, aus dem mich am nächsten Morgen um zehn der Wecker reißt, damit ich mich auf den Weg ins Bordell machen kann. Wo ich, umgeben von halbnackten Mädchen und gut bezahlten Illusionen, meine Unschuld verdränge.
»Wie würdest du Verzweiflung beschreiben?«, fragt Chase, als er mich am nächsten Tag anruft.
»Keine Ahnung«, antworte ich. »Verzweiflung tritt bei mir chronisch und in mindestens hundert verschiedenen Abwandlungen auf. Vielleicht ist Verzweiflung die Sekunde, in der sich alles wendet und man begreift, dass nichts, aber auch gar nichts auf dieser Welt von Dauer sein kann. Dass alles irgendwann zerbricht oder zerfällt oder brennt oder verrostet. Aber ich glaube, meine größte Verzweiflung tritt auf, wenn ich darüber nachdenke, dass es wahrscheinlich keinen einzigen Ort auf der Welt gibt, an dem noch nie jemand etwas von Sex gehört hat.«
»Verzweiflung ist eine aussichtslose Situation, in der man seinen wahren Charakter erkennt«, meint Chase.
»Lady
Weitere Kostenlose Bücher