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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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und wieder kommt auch Barbie aus dem SM -Raum zu uns herübergeklackert und setzt sich eine Weile mit an den Tisch, um ein paar Buletten zu verdrücken und in Ruhe eine zu rauchen, bevor sie zurück zu ihrem Kunden stiefelt, um ihn als elenden »Wichsgnom« zu betiteln und dabei auszupeitschen.
    Ich denke an die vergangenen Zeiten. Es ist erstaunlich, wie jung ich noch bin, obwohl ich das Gefühl habe, schon so viel durchgemacht zu haben. Am Leben zu sein ist für mich manchmal so unbegreiflich, dass ich hinaus auf die Straße gehen muss, um irgendwen nach der Uhrzeit zu fragen, nur um zu überprüfen, ob ich wirklich noch da bin und nicht träume. Denn es ist nicht allzu lange her, als ich felsenfest davon überzeugt war, niemals volljährig werden zu können: Wie verständnislos man an seinem achtzehnten Geburtstag in das helle Morgenlicht blinzeln kann, überrumpelt von diesem Hauptgewinn.
    Ich war mir immer bewusst, dass der Tod direkt neben Ana und Mia steht, dass sie Hand in Hand einherkommen. Ich war sogar erleichtert, weil ich wusste, dass meine Ewigkeit ziemlich begrenzt sein würde. Obwohl ich auch nichts dagegen gehabt hätte, noch einmal ganz von vorne anzufangen.
    Aber die Zeit läuft immer weiter, sie ist zu ausgebucht, um an den Anfang zurückzukehren oder einen Lebensabschnitt anders zu konzipieren.
    Das ist der einfache Teil vom Leben und Tod.
    Kompliziert wird es erst mit dem Satz: »Ich will nicht sterben und vor allem nicht so.«
    Und noch komplizierter wird es, wenn man einige der dazugehörigen Folgesätze anhängt: »Ich will noch so viel erleben. Ich will Kinder kriegen. Ich will Schokolade essen. Ich will einmal sagen können: Ich liebe dich. Und ich will es ernst meinen.«
    So viele Sätze, die mit »Ich will« anfangen.
    So viele offene Wünsche.
    Ich sollte intelligent genug sein, um mir in meine Augen sehen zu können und standzuhalten. Ich sollte Sachen zu mir sagen wie: »Ich werde leben. Ich werde aufhören zu verhungern. Ich werde mich mit Sorgfalt berühren. Ich werde keine Ana mehr sein. Und auch keine Mia. Ich werde jedem, der mich belächelt, weil ich Sex, Geld und Arbeit beliebig miteinander kombinieren kann und auch noch behaupte, ein Gehirn zu haben – ich werde jedem von denen beweisen, das ich kein Stück vom gefickten Kuchen bin.«
    Aber ich sage es nicht.
    Stattdessen verlasse ich den Tisch, an dem die anderen Passion-Mädchen in ihren verführerischen Dessous sitzen, gehe hinüber ins Mädchenzimmer und starre mich wortlos in der Spiegelwand an. Dann beiße ich mir auf die Lippen, bis ich Blut schmecke.
    »Sag es. Sag es. Sag es nur einmal!«, denke ich verzweifelt. Aber ich schweige beharrlich.
    Und niemand schweigt besser als ein missbrauchtes Kind.
     
    Irgendwann kommt Brittany zu mir und wirft sich seufzend auf das Bett. Dann fängt sie an, im Sekundentakt Beschimpfungs- SMS mit ihrem Freund des Tages auszutauschen. Es piept und piept und piept. Und Brittany flucht wütend vor sich hin.
    Nachdenklich verziehe ich mich in den Krisenbewältigungsteil meines ausgebrannten Zwischenhirns. Er ist defekt, so weit ich zurückdenken kann, aber dennoch ein Ort für interessante Ratschläge.
    Platz eins auf der Rangliste der meist genutzten Hinweise:
Die ultimative Lösung für jede Art von Krise sind Kalorien. Natürlich keine Kalorien, die man zu sich nimmt, sondern die, auf die man verzichtet.
    Und da ich zurzeit unglaublich fett bin, mit einem so abstoßenden Gewicht von 44 , 2  Kilo, wird es sicher nicht schaden, wenn ich mich ein paar Wochen lang nur von Kiwis ernähre.
    Meine aufmerksame und selbstlose Freundin Ana ist natürlich sofort zur Stelle, um mich zu unterstützen.
    »Lilly«, flüstert sie mir verführerisch ins Ohr. »Komm, lass uns wieder so wunderschön leicht und frei sein wie damals mit 37  Kilo … weißt du noch?«
    Natürlich weiß ich das noch, ich erinnere mich an alle Tage mit Ana, es sind die schwächsten und isoliertesten, die ich je hatte. Doch zugleich sind es auch die stärksten und mächtigsten Tage, denn nichts will meine vergewaltigte Seele mehr als Kontrolle und Befehlsgewalt über diesen geschundenen Körper.
    »Bis zum Ende …«, raunt Ana und legt ihre Hand auf meine Taille, »… du hast es versprochen. Und ein Versprechen muss man halten.«
    »Ja«, sage ich, »versprochen ist versprochen.«
    Aber wenn ich demnächst tot umkippe und meine Eltern in meine Wohnung kommen, um meinen Nachlass zu sichten, was werden sie dann denken,

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