Splitterfasernackt
Anschließend wickele ich mir einen weißen Schal um den Hals, ziehe die passenden Stiefel an und suche noch schnell nach meiner Jacke.
»Du bist unglaublich schön«, sagt Chase, der mir beim Anziehen zusieht.
»Normalerweise sagen Männer das zu mir, wenn ich mich ausziehe«, erwidere ich. »Nicht, wenn ich mich anziehe.«
»Die sind alle doof«, meint Chase. »Du bist auch nackt schön, aber dir dabei zuzuschauen, wie du in einem riesigen lilafarbenen Shirt verschwindest, das sich als Kleid um deine Winzigkeit legt – dieser Anblick macht befangen und geil zugleich.«
»Danke, Chase«, sage ich.
»Bedanke dich nie für die Wahrheit«, erwidert er.
Kurz darauf sitzen wir im 12 Apostel, und Chase bestellt eine große Pizza Judas. Mir ist schon schlecht, bevor ich überhaupt etwas gegessen habe, oder vielleicht ist mir auch schlecht, weil ich seit einer Ewigkeit nichts mehr gegessen habe. Aber was macht das für einen Unterschied, wenn Ana deinen Namen kennt.
»Lilly! Nicht einschlafen!«, reißt Chase mich aus meinen Gedanken. »Erzähl mir lieber etwas über dich, das ich noch nicht weiß. Als Gegenleistung erzähle ich dir dann auch eine Geschichte.«
»Du könntest mir eine Geschichte erzählen, Chase, irgendeine – von dir oder von sonst wem«, brumme ich nicht gerade freundlich, denn ich bin todmüde. »Und weißt du was, es wäre mir scheißegal.«
Chase grinst. Chase grinst eigentlich immer. Wahrscheinlich ist das so, wenn man unglaublich glücklich ist, oder zugekokst – dann kann man vielleicht gar nicht mehr anders als immerzu grinsen.
Die Pizza kommt, Chase schiebt ein Stück davon auf meinen Teller und grinst noch breiter; ich glaube allmählich, er findet das lustig.
»In meinem Kopf sitzen Ana und Mia und pokern um eine Seele, die längst tiefgekühlt auf dem Meeresgrund liegt. Und du, du willst eine Pizza mit mir teilen?«, fauche ich Chase an.
»Wenn du den Käse abpulst und das Pizzastück vorher in siebzehn Teile schneidest, kannst du doch bestimmt etwas davon essen, oder?«, fragt Chase freundlich.
»Was?«, frage ich wütend.
»Ich habe mir ein Buch gekauft«, erklärt Chase. »Es handelt von einem magersüchtigen Mädchen. An manchen Tagen isst sie nur weiße Sachen, an anderen nur grüne. Und sie schneidet alles immer in ganz kleine Stücke, davon isst sie dann jeweils nur ein Drittel. Wär das nicht was für dich?«
»Bist du bescheuert?«, will ich wissen.
»Wieso?«, meint Chase und fängt an, das Pizzastück für mich zu zerschnippeln. »Dann lebst du noch ein bisschen länger, als wenn du gar nichts isst, und irgendwie ist es sogar lustig. Lustiger als überhaupt nichts essen auf jeden Fall.« Chase grinst mich weiterhin an, schiebt den Teller mit dem zerstückelten Pizzastück noch näher zu mir hin und mustert mich erwartungsvoll.
»Wir könnten danach auch ein bisschen vögeln«, bietet er mir höflich an und zwinkert mir zu, mit diesen unglaublichen dunkelbraunen Augen. »Dann hast du die Kalorien gleich wieder verbrannt.«
Ich sehe die Pizzaeinzelteile an. Und anschließend den rechten Oberarm von Chase. Ich mag starke Arme. Damit kann man mir weh tun. Ich mag eigentlich alles, womit man mir weh tun kann: Rasierer, Messer, Zigaretten, Autos, Türkanten, Steine. Chase könnte mich prima erwürgen. Dann wäre alles schön ruhig. Und Pizza müsste ich dann auch nie wieder essen. Aber ich bezweifle, dass Chase mir diesen Gefallen tun würde. Er ist ein ziemlich sanfter Mensch. Nur wenn er zu viele Drogen genommen hat und total betrunken ist, wird er ein bisschen grobmotorisch, dann schnappt er sich manchmal meinen Arm, um mich irgendwo hinzuziehen, weil er mir etwas zeigen will, das ihm in diesem Moment unglaublich wichtig oder künstlerisch oder sonst was vorkommt, und eine Stunde später habe ich dann seine Fingerabdrücke in leuchtendem Blau auf meinen Armen. Ich glaube, Chase hat am nächsten Tag nie geschnallt, dass er das gewesen ist. Und natürlich habe ich nie ein Wort gesagt. Denn dann hätte es ihm leidgetan, und das wollte ich nicht.
»Hey«, holt Chase’ Stimme mich wieder zurück zu dem Stück Pizza. »Wir gehen hier nicht weg, bevor du nicht wenigstens sieben von diesen Krümelstücken gegessen hast.«
»Eins«, sage ich.
»Sieben«, wiederholt Chase, »ich verhandele nicht mit Personen, die weniger als halb so viel wiegen wie ich.«
»Und wenn nicht?«, frage ich. »Wir können nicht ewig hier rumsitzen, das wird dir zu langweilig.«
Chase
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