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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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dich wie zu Hause und ruf mich an, wenn Alex psychopathisch wird. Sag ihm einfach, dass ich bei einer von meinen Kinderfamilien bin. Du hast ihm doch erzählt, dass ich mit Kindern arbeite, oder?«
    Amy nickt und lässt sich auf mein Bett sinken.
    »Möchtest du lieber, dass ich bei dir bleibe?«, frage ich.
    Sie schüttelt den Kopf.
    »Nein, nein, geh nur. Eriko hat sowieso schon schlechte Laune, weil Minny und Dasha immer zu spät kommen. Er mag es nicht, wenn wir einfach abhauen. Und du hast doch gleich noch einen Termin mit deinem Stammgast«, sagt Amy. »Wir sehen uns dann später?«
    »Ja klar, und du kannst auch gerne hier schlafen«, antworte ich.
    Dann gebe ich Amy einen Kuss, drücke sie noch einmal fest und mache mich anschließend schleunigst aus dem Staub, damit ich Alex nicht begegne.
     
    Als ich drei Stunden später wieder nach Hause komme, schläft Amy schon. Sie liegt zusammengekuschelt auf meinem Sofa und trägt ein weißes T-Shirt von mir. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel:
Danke, Lilly, für alles. Wir haben lange geredet, vielleicht glaubt er mir jetzt. Bis morgen früh, schlaf gut!
    Ich ziehe mich leise aus, lege mich in mein Bett und starre aus dem weit geöffneten Fenster in die dunkle Nacht hinaus. Der kalte Wind kitzelt mich am Hals, und ich erzittere, aber komischerweise kann ich nur mit offenem Fenster schlafen, selbst im Winter, wenn ich so entsetzlich friere.
    Es ist ungewohnt, nicht alleine in meiner Wohnung zu sein. Natürlich habe ich manchmal Besuch, aber zu wissen, dass am nächsten Morgen, wenn ich aufwache, noch jemand hier sein wird, das wühlt mich auf. Mein Leben ist so sehr bestimmt von Isolation, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen kann, wie es ist, einen festen Freund zu haben. Wenn ich nach Hause komme, ist immer alles still. Niemand sagt etwas, niemand fragt etwas. Ich muss nichts erzählen, nichts erklären, nichts rechtfertigen, nichts beweisen, nichts essen, nichts verstecken.
    Ich bin einfach da.
    So gut ich kann.
    Ich versuche, auf mich aufzupassen.
    Auch, wenn ich nicht weiß, wofür.
     
    Am nächsten Morgen wache ich auf, weil mich etwas im Gesicht kitzelt. Es sind Amys Haare. Sie blinzelt mich müde an, während ich noch dabei bin zu begreifen, wo ich mich gerade befinde.
    »Entschuldigung«, murmelt Amy mit müder Stimme. »Ich konnte nicht schlafen, da bin ich zu dir umgezogen. Ist das okay?«
    Ich antworte ihr nicht, sondern rutsche einfach etwas näher an sie heran, atme ihren sanften Duft ein, lege einen Arm um sie und lasse zu, dass ihre Hand über mein Gesicht und weiter über meine Schultern zu meiner Taille hinabwandert.
    Es ist zärtlich, gehalten zu werden.
    Es ist zärtlich, nicht alleine zu sein.
    Und es ist Zärtlichkeit, etwas zu teilen – ganz egal, ob Schmerz oder Glück.

18
    E s ist immer noch Herbst, aber etwas verändert sich mit der Zeit. Ein Gefühl in mir wird immer lauter und lauter, oder vielleicht kommt es mir auch nur so vor, weil ich selbst zu leise geworden bin.
    Ich stehe regungslos im Begrüßungszimmer und blicke hinauf zu dem großen Kronleuchter. Um mich herum sind so viele Geräusche: ein Föhn, die Lounge-Musik, leises Seufzen, verhohlenes Lachen, geiles Stöhnen, das Rattern des Kaffeeautomaten, der Klingelton eines Handys. Aber trotzdem ist alles merkwürdig festgefroren. Erstarrt.
    Unwirklich.
    Zu scharf gestochen.
    An manchen Stellen verwischt.
    Dann wird mir auf einmal klar, was passiert ist.
    Ich habe mich an dieses Leben gewöhnt. Es ist normal geworden, es überwältigt mich nicht wie am Anfang, es ist längst nichts Außergewöhnliches mehr, und es fängt an, mich zu langweilen. Es ist nichts übrig, was ich im Passion noch lernen könnte; es gibt nichts mehr, woran ich wachsen oder scheitern könnte.
    So darf mein Leben nicht sein.
    Ich ertrage es nicht, etwas Gleichbleibendes und Alltägliches um mich zu haben. Monotonie, Normalität – beides gibt dem Chaos in mir zu viel Platz, um ungehindert zu wüten.
    Meine Tage im Passion sind gezählt. Das wird mir klar, während ich auf Minnys heftiges Stöhnen lausche, das aus Zimmer zwei zu mir herüberdringt und sich mit dem Violinensolo, das gerade im Begrüßungszimmer läuft, vermischt.
    Nachdenklich gehe ich ins Mädchenzimmer und lege mich dort mit meinem Laptop auf das Bett. Dann fange ich an zu schreiben, weil Schreiben das Einzige ist, was ich kann, ohne dabei abseits von meiner Seele, zwischen flüchtig zusammengepflasterten Gedanken, zu

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