Splitterherz
geschehen, falls seine Warnung denn wahr werden sollte. Ich verschanzte mich hinter der Zeitung, bis Mama munterer wurde. Sie schlurfte in die Küche, holte scheppernd Marmeladen aus dem Schrank, stellte Teller und Gläser auf den Tisch und begann allmählich, wie ein lebendiger Mensch zu agieren.
Ich biss mir auf die Zunge, um sie nicht darauf hinzuweisen, dass heute ihre beste Freundin aus Heidelberg fünfundvierzig wurde. Es stand unübersehbar in dem Kalender, der neben mir an der Wand prangte. Ich durfte keinen Verdacht wecken. Die Brötchen waren fertig. Vorsichtig fischte ich sie aus dem heißen Ofen. Sag was, Mama, bitte, sag das Richtige ...
»Geht’s dir eigentlich wieder gut? Hast du’s überstanden?« Ihre Augen wirkten etwas klarer als eben noch.
»Na ja - ein bisschen wackelig in den Knien. Vielleicht setze ich mich heute Nachmittag mal in den Garten. Ich weiß es noch nicht«, sagte ich. »Aber es wird besser.« Gelogen war das nicht. Vielleicht setzte ich mich wirklich in den Garten. Und manchmal war ich noch wackelig in den Knien - wenn auch wegen Colin und meines Plans und nicht wegen der vermaledeiten Windpocken.
»Hm.« Mama überlegte. Sie überlegte lange und zwischendurch huschten Schatten über ihr vor Müdigkeit blasses Gesicht.
»Regina hat heute Geburtstag«, sagte sie schließlich wie nebenbei, blickte mich aber prüfend an. Ich blickte möglichst unschuldig zurück.
»Ihren fünfundvierzigsten«, fügte Mama bedeutungsvoll hinzu.
»Und?«, fragte ich unbeteiligt, ohne von der Zeitung aufzusehen. »Hat sie dich eingeladen?«
»Sag, Ellie, kann ich dich alleine lassen? Kommst du klar? Ich habe sie Jahre nicht gesehen, wir haben uns immer nur geschrieben und ich könnte bei ihr übernachten. Ich wäre morgen wieder da, und wenn was ist, kannst du mich jederzeit anrufen, jederzeit!« Hektisch schmierte sie Butter auf ihr Brötchen und strich sich eine Locke aus der Stirn. Schlagartig bekam ich ein schlechtes Gewissen. Sie machte sich Sorgen um mich - und zwar nicht wegen Colin, sondern wegen der Windpocken. Und wegen meines Fiebers, das immer wieder so unerwartet hoch gestiegen war. Sie vertraute mir, dass ich Colin nicht besuchen würde. Meinen betroffenen Gesichtsausdruck interpretierte sie prompt falsch.
»Ein Wort von dir und ich bleibe hier - keine Frage. Ich mache es nur, wenn du dich gesund genug fühlst.«
»Natürlich kannst du fahren!«, unterbrach ich sie eilig. »So krank bin ich ja nun nicht mehr. Im Gegenteil. Ich fühle mich besser. Ich bin nur noch müde. Das ist alles. Es wird schon nichts passieren.«
Ich schob mir die Zeitung wieder vors Gesicht, damit sie mir die Scham nicht von den Augen ablesen konnte. Letzteres war eine kühne Versprechung gewesen. Es wird schon nichts passieren. Pah. Und doch: Bisher war nichts passiert. Warum sollte jetzt etwas passieren?
Colin hätte tausend Gelegenheiten gehabt, mir Schaden zuzufügen - in welcher Form auch immer. Wir hatten zusammen alleine im Auto gesessen. Ich war bei ihm zu Hause gewesen, mitten im Nirgendwo, weit und breit kein anderes menschliches Wesen. Er hätte mich im Keller lautlos packen können, als ich die Wildschweine entdeckte. Niemand hätte es je erraten. Niemand hatte gewusst, wo ich war. Und doch: Garantieren konnte ich für nichts. Wenn es ganz dumm lief, sah ich Mama nun zum letzten Mal.
Aber wenigstens waren sie und Papa in Sicherheit. Jetzt konnte »es« nur noch mich umbringen. Das war zumindest Schadensbegrenzung.
Von meinem Vater hatte ich mich nicht mehr verabschieden können. Doch selbst wenn ich von dem Kongress gewusst hätte - er hätte mir mein Vorhaben sofort vom Gesicht abgelesen. Nach wie vor war ich mir sicher, dass er mein Gedächtnis gelöscht, mir die Müdigkeit und die Spinnen geschickt hatte, damit ich Colin nicht aufsuchte. Damit ich mich gar nicht erst an Colin erinnerte. Ich hatte keine Ahnung, wie er das angestellt hatte - aber ich traute Papa inzwischen alles zu. Er hatte es geschafft, mich siebzehn Jahre lang anzulügen. Und wer sagte denn, dass er mir die Wahrheit erzählt hatte und nicht eine beschönigte Version für spätpubertäre Töchter?
Nur gut, dass er unterwegs war. So konnte ich mich später in sein Büro schleichen und schauen, ob ich etwas fand, was mir weiterhalf. Vielleicht so etwas wie die geheime Nachtmahrakte.
Eine Stunde später war Mama reisefertig und stand sehr viel wacher und rosiger vor mir. Sie schaute mich lange an, bevor
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