Splitterherz
kapitulierte das Modem. Ich unternahm noch einen letzten und sehr traditionellen Anlauf: Papas große Enzyklopädie. Und tatsächlich. Es gab einen Eintrag unter Nachtmahr - ein paar unschlüssige, knappe Zeilen:
»Auch Nachtalb, oberdeutsch Drud , im Volksglauben Schreckgeist, der dem Schlafenden auf der Brust lastet und ihm Angst, Atemnot und schlechte Träume (Albdruck) einflößt. Glaube an Nachtmahre ist international. Wesen dringen durch Astlöcher in Häuser ein und überbringen auch Krankheiten.«
Bei der Vorstellung, mein mächtiger Vater quetsche sich durch ein Astloch, musste ich lachen. Doch dann stutzte ich und las die mageren Informationen ein weiteres Mal. »Überbringen auch Krankheiten.« Moment. Die Windpocken.
»Du Schuft!«, stieß ich fassungslos hervor. Das konnte er doch nicht getan haben - mein eigener Vater ließ mich krank werden? So krank, dass ich jede Nacht gegen mehrere Fieberanfälle kämpfte und zwei Wochen lang von der Schule wegbleiben musste? Nur damit ich Colin nicht wiedersah? Na gut. Und damit wir am Leben blieben.
Trotzdem. Ich hatte das dringende Bedürfnis, ihn auf der Stelle anzurufen und ihm bitterste Vorwürfe an den Kopf zu werfen. Von wegen, ich war hier sicher. Ich war hier überhaupt nicht sicher. Wütend verließ ich das Büro und ging nach oben auf mein Zimmer. Ich war nicht einen Funken schlauer - sah man mal von den neuerlichen Verdachtsmomenten gegen meinen eigenen Vater ab. Aber ich hatte nichts Entscheidendes gewonnen, was mir bei meinem Plan weiterhelfen oder mich gar schützen konnte.
Das Sonnenlicht wurde milder. Es war später Nachmittag geworden. Sollte ich doch hierbleiben und klein beigeben? Nichts tun, damit alles so blieb wie bisher? Und trotzdem: Was konnte mir im schlimmsten Falle passieren? Wie gesagt - Colin hätte mir ja längst etwas antun können. Uns allen.
Ich fand keine Antworten. Nur ein forderndes, unüberhörbares Bauchgefühl, das mich ausschließlich in eine Richtung trieb: hinaus in den Wald, fort von schützenden Mauern und Türen, fort von dem, was bisher meine sichere Bastion gewesen war. Meiner Familie.
Ich schloss den Wintergarten und den Keller ab, damit niemand eindringen konnte, während ich oben in meinem Zimmer lag und in mich hineinhorchte - denn genau das würde ich jetzt tun. Merkwürdigerweise schlief ich sofort ein. Als ich aufwachte, war es noch nicht Nacht - Gott sei Dank, dachte ich erleichtert - und ich fühlte mich gesund und erfrischt. Die Sonne stand tief. Es war so weit.
Wie automatisiert erhob ich mich, spritzte mir im Bad kaltes Wasser ins Gesicht und fuhr mir mit den feuchten Händen durch meine unbezähmbaren Haare. Sie waren schon immer störrisch gewesen und hatten mich viel Zeit gekostet, aber das, was sie jetzt taten, war pure Rebellion. Wenn ich eine Haarspange hineinzwang, löste sie sich und fiel leise klirrend zu Boden; die Haargummis platzten; Bänder rutschten heraus, ohne dass ich es merkte. Sie wehrten sich gegen alles. Ich konnte sie nur noch offen lassen.
Meine Windpockennarben dagegen würden mit der Zeit verschwinden. Noch zeichneten sie sich als helle Flecken auf meiner blassen Haut ab. Ich brauchte dringend etwas Licht und Sonne. Ein Spaziergang würde mir guttun.
Bevor ich die Haustür hinter mir zuzog, legte ich einen Zettel auf die Kommode. »Colin. Ich konnte nicht anders. Verzeiht mir. Ich liebe Euch. Elisabeth.«
Dieser Zettel konnte alles bedeuten.
Ich bin bei Colin. Colin hat mich getötet. Colin hat mich verschleppt.
Colin hat mich angefallen?
Ich warf einen letzten Blick auf das Haus. Es war noch sehr warm, sodass ich mir meine Strickjacke nur locker um die Hüften band. Die ersten Schritte kosteten mich Unmengen von Kraft. Mehrere Male musste ich anhalten, um dem Drang zu widerstehen, zurück ins Haus zu rennen, den Zettel zu verbrennen und mich in meinem Zimmer einzuschließen.
Aber ich ging weiter. Sobald die Kühle des Waldes mich umschloss, wurde es leichter und ich wurde ruhiger. Er hatte sich verändert. Die Felswände an den Seiten des Weges waren von dichten hellgrünen Farnen bewachsen und überall zwischen den Bäumen blühten langstielige weiße Blumen. Ich folgte den Hufabdrücken, die sich wie ein vertrautes Muster an den Wegrändern entlangzogen. Dann kam ich an eine Abzweigung und zweifelte plötzlich an meiner eigenen Erinnerung. Links oder rechts? Ich kniete mich nieder und suchte nach breiten Reifenspuren, die mir
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