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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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sie mich in ihre braun gebrannten Arme schloss.
    Ahnte sie vielleicht doch etwas? Ich spürte einen dicken Kloß im Hals und war kurz versucht, darum zu betteln, dass sie blieb. Denn dann konnte ich es nicht tun und wir würden uns ganz sicher nicht verlieren. Ich drückte meine Stirn an ihre Schulter und atmete tief ein, diesen neuen eigentümlichen Geruchsmischmasch aus Parfüm, Seife, Kräutern, Erde, Gras und Rosenblättern.
    »Du bist wirklich sicher?«, fragte sie zum hundertsten Mal.
    »Ja«, sagte ich bestimmt und fühlte mich wie ein Schwerverbrecher.
    Sic stieg in ihre uralte Ente und warf den schnatternden Motor an. »Fahr vorsichtig!«, rief ich und sie hob zum Abschied die Hand. »Ich hab dich lieb«, setzte ich leise hinterher. Doch das hörte sie nicht mehr. Das rote Gefährt verschwand wild röhrend hinter der Kuppe des Feldwegs. Ich war allein.
    Elend schleppte ich mich in den Wintergarten, setzte mich an den Esstisch und heulte. Aber es gab kein Zurück mehr. Ich musste tun, was ich beschlossen hatte. Ich konnte, nein, ich durfte nicht länger warten.
    Trotz meiner Nervosität war ich auf einmal erschöpft. Es war An­fang Juli. Bis die Schatten länger wurden und das Licht weicher, ver­gingen noch viele Stunden. Die Sommerferien hatten begonnen. Es gab für mich nichts zu tun in diesem Haus. Nichts zu lernen, nichts aufzuräumen.
    Und ich wollte bis zur Dämmerung warten, um mich auf den Weg zu Colin zu machen - denn seltsamerweise hatte ich mich bei ihm immer dann am sichersten gefühlt, wenn es dunkel war. Nur ungern erinnerte ich mich an unsere Begegnung bei gleißendem Morgen­licht unten am Bach und an diese allumfassende Schwäche, die mich angesichts Colins eisblauer Augen ergriffen hatte. Nein, ich wollte erst aufbrechen, wenn die Hitze milder wurde und die Sonne sanf­ter.
    Deshalb tat ich, wovor ich mich gerne gedrückt hätte - ich nahm mir Papas Arbeitszimmer vor. Vorsichtig und so leise wie möglich drückte ich die kühle Türklinke hinunter, als könnte ich irgend­jemanden oder irgendetwas da drinnen aufschrecken und verärgern. Aber das Büro war unverändert. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Akten, der schwere Chefsessel stand schräg zum Flatscreen aus­gerichtet und die Sonne verzierte die Buchrücken in den Regalen mit goldenen Streifen. Wenn Papa nicht hier war, sorgte Mama da­für, dass die Orchideen genug Licht bekamen.
    Als Erstes durchsuchte ich den Schrank, in dem das Gemälde ge­legen hatte. Es ruhte noch immer im obersten Fach - und nichts sonst. Keine Bücher, Briefe, Ausdrucke oder Unterlagen. Es blieb mir also nur, mich systematisch durch alle Regale, Schränke und Schubladen vorzuarbeiten, ohne Spuren zu hinterlassen. Aber darin hatte ich Übung.
    Zwei Stunden später gab ich entkräftet auf. Ich hatte nichts gefun­den außer den bekannten Wälzern und Enzyklopädien. Und Kran­kenakten. Papa hatte Fotos der Patienten angefertigt und eingeklebt. Dumpfe, leblose Augen starrten mich an, umschattet und von Fur­chen gezeichnet. Auch um den Mund herum hatten sich bei den meisten scharfe Falten eingegraben. Viele der Patienten hatten zer­zaustes Haar und eine ungesunde gelbliche Gesichtsfarbe. Sie waren nicht einmal mehr in der Lage, nach dem zu suchen, was ihnen fehl­te. Bei einigen hatten sich der Wahn und der Irrsinn bereits tief in ihr Antlitz gefressen. Gerne hätte ich mehr über ihre Geschichte er­fahren, über die Diagnosen, die Papa gestellt hatte. Aber so fremd er mir momentan auch war - diese Menschen konnten nichts für un­sere Querelen. Ich sollte sie in Frieden lassen. Ich konnte ohnehin nicht verstehen, wie man freiwillig seine Zeit mit durch und durch verstörten Persönlichkeiten zubringen konnte und daran noch Freude fand. Aber ich besann mich wieder auf mein eigentliches Vorhaben. Nachtmahre.
    Vielleicht half mir das Internet? Ich fuhr den Computer hoch. Wir hatten immer noch kein DSL, aber Papa hatte zur Überbrückung sein altes Modem eingestöpselt. Quälend piepste es, während sich die Verbindung aufbaute. Eine äußerst zähe Angelegenheit. Unruhig drehte ich mich auf dem Sessel im Kreis, bis ich endlich die Suchmaschine aufrufen konnte. »Nachtmahr«, tippte ich. Kurz erzitterte das Bild und tauchte dann in schwarze Leere ab. Verbindung unter­brochen.
    »Das ist nicht witzig«, knurrte ich. Ein erneuter Versuch schlug ebenfalls fehl - zwar fing der Prozessor flüsternd an zu suchen, doch bevor die Ergebnisse eintrudelten,

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