Splitterherz
vorgestern ...« Er suchte nach dem passenden Wort. Für einen irren Moment hatte ich eine Vision von einem mickrigen, äffchenartigen schwarzen Alb, der sich des Nachts im Nacken von Bambi festbeißt.
»Erlegt?«, fragte ich forsch.
»Das kann man nicht gerade behaupten«, erwiderte Colin gelassen. »Es wurde angefahren und ich hatte die undankbare Aufgabe, das arme Tier zu erlösen.«
Ich schluckte hart und schaute ihn bang an.
»Mit dem Gewehr, mein Herz.« Die beißende Ironie in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Pah«, sagte ich matt und kam mir recht dämlich vor. Er lachte, ein offenes, ehrliches und vor allem verteufelt schönes Lachen.
Er war Jäger und schoss ein Reh, das war alles. Und nun wollte er mir ein Teil aus dem Rücken braten. Sah man mal von seinen denkwürdigen Entspannungsmethoden ab, so waren diese Umstände derart normal und menschlich, dass ich Papa innerlich kurz verfluchte, während Colin am Herd stand und pfeifend Zwiebeln hackte. Er sah nicht sonderlich dämonisch dabei aus.
Ich kroch auf einen seiner Barhocker, denn nun trugen mich meine Beine endgültig nicht mehr. Neugierig schaute ich ihm zu. Der Geruch des angebratenen Fleisches raubte mir fast den Verstand. Als er mir den Teller hinstellte, fiel ich gierig darüber her und schob das Bild des armen angefahrenen Rehs weit von mir weg.
Colin lehnte gegenüber an der Spüle und säbelte ohne rechte Lust auf einem kleinen Stück Fleisch herum, ohne davon zu kosten.
»Hast du keinen Appetit?«, fragte ich mit halb vollem Mund. Statt einer Erwiderung schob er mir nur das restliche Stück Rehrücken zu. Erst als ich den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte, antwortete er.
»Nicht auf so etwas.«
»Nicht auf so etwas«, echote ich. »Hast du, ähm, eher Appetit ... auf mich?«
»Wie meinst du das denn, Ellie? Solch verbalerotische Eskapaden hatte ich dir gar nicht zugetraut«, gab er grinsend zurück. Ich wurde feuerrot.
»Verschon mich bitte mit dem Vampirkrempel«, ließ er durchblicken, dass er mich sehr wohl verstanden hatte. »Außerdem hast du Flecken im Gesicht. Ich esse keine Mädchen mit Flecken im Gesicht.«
Doch dann wurde Colins Blick ernst und er schaute mir so tief in die Augen, dass ich mich am Barhocker festklammern musste, um nicht zu fallen. Trotzdem griff ich nach einigen Sekunden schwankend nach vorne und schnippte den obersten Ring an seinem linken Ohr zur Seite. Nein. Das war keine Verletzung. Kein Geschwür oder Ähnliches. Das sollte so sein. Ein spitz zulaufendes Ohr, das reflexartig zuckte, als ich es sacht berührte. Es war eiskalt.
»Colin ...«, flehte ich hilflos. »Was in Gottes Namen bist du?«
Er dachte nach, bevor er antwortete, und schlug die Augen nieder. Ich hielt den Atem an. Dann zog er mich wieder in den Bann seiner sich nach und nach dunkel verfärbenden Iris und alles in mir wurde weich.
»Ein fühlendes Wesen. Und das ist keine Selbstverständlichkeit.«
Ich spürte die Tränen nahen und schluckte krampfhaft.
»Wie alt bist du?«, flüsterte ich.
»Zwanzig«, sagte er ruhig.
»Wie alt bist du?«, wiederholte ich, obwohl meine Stimme mich verlassen hatte und ich nur noch wispern konnte.
»158.« Es klang ernst und bitter, als er das sagte. Es gab keinen Zweifel, dass es die Wahrheit war.
158. Die letzte Hoffnung in mir brach zusammen. Vor mir stand ein Greis in einem Jungenkörper. Er war kein Mensch. Papas Verdacht war richtig gewesen. Er war etwas anderes. Etwas Furchterregendes. Papa konnte sterben. Colin ganz offensichtlich nicht. Ich rutschte kraftlos vom Barhocker und sank auf dem kühlen Boden in mich zusammen.
»Oh nein.« Meine eigene Stimme kam mir fremd vor, weil ich sie noch nie so nackt und verzweifelt gehört hatte. »Nein.«
»Ellie ... bitte - so schlimm ist es nicht.« Colin trat um den Tresen herum und zog mich ohne die geringste Anstrengung nach oben. Aber meine Beine und Füße kamen mir vor wie Fremdkörper, ich konnte nicht mehr auf ihnen stehen.
»So schlimm ist es nicht?«, rief ich schrill und drückte meine zitternden Fäuste gegen seine kühle Brust. Noch immer hielt er mich fest. »Du findest es also nicht schlimm, dass ich hier heute Abend sterben oder zu so einem - Dingens gemacht werde, dass ich meine Eltern verliere, dass sie mich suchen und vermissen werden, ihr Leben lang? Das findest du nicht schlimm?«
Die blinde Panik überwältigte mich. Ich wimmerte auf und wollte fliehen, nur weg von hier, ganz
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