Splitterherz
sie über - und damit auf mich. Ich weiß nicht genau, wie Tessa das getan hat. Aber ich weiß, dass sie es getan hat. Sie hat gerne damit geprahlt - wie stark sie war und wie schwach meine Mutter.«
Jetzt nahm sich Colin auch eine der Katzen auf den Schoß und fuhr ihr gedankenverloren durch das samtige Fell. Ich wagte nicht weiterzufragen. Ich hoffte einfach nur, er würde fortfahren.
»Ich kam normal zur Welt, aber ich war kein normales Kind. Ich kann mich an alles erinnern. An alles. Von meinem ersten Tag an.«
Ich rückte näher an das Feuer, doch seine Hitze konnte die Schauer, die in Kaskaden über meinen Rücken liefen, nicht vertreiben. Wie musste es wohl sein, sich von seinem ersten Atemzug an zu erinnern? Ich wollte es mir nicht ausmalen. Colin erzählte weiter.
»Ich lehnte ihre Milch ab. Nicht, weil ich sie nicht trinken wollte - sondern weil ich spürte, dass sie mich nicht an ihrer Brust ertragen konnte. Meine Mutter fürchtete mich. Sie fürchtete mich, weil ich nicht schrie und nicht weinte, weil ich nur still dalag und aus dem Fenster schaute und auf etwas wartete. Ich wusste nicht, auf was, aber ich wartete. Vielleicht wartete ich auf meine echte Mutter ...«
Jetzt war mir plötzlich alles klar. Meine Träume - das Baby! »Und dann haben sie dir Stutenmilch gegeben. Damit du nicht stirbst«, sagte ich atemlos. Das Baby war Colin gewesen. Ich hatte Colin gesehen. Er schaute mich aufmerksam, aber nicht im Geringsten verwundert an.
»Ja. Meine Schwester tat es«, sagte er leise. »Auch ihr war ich unheimlich. Aber sie ließ mich wenigstens nicht verhungern. Außerdem brachte sie mir die menschliche Sprache bei. Meine Mutter dachte, ich sei ein Wechselbalg. Ein missratenes Elfenbaby, das die Feen brachten, um im Gegenzug ein gesundes Menschenkind unbemerkt stehlen zu können. Ich sag ja - Aberglaube.«
In mir wuchs eine ungeheuerliche Wut, die sich erbittert mit der kaum bezähmbaren Trauer über Colins Geschichte stritt. Papa schickte mir Müdigkeit und Spinnen. Colin schickte mir Träume. Ich fühlte mich überrumpelt und benutzt.
»Dann warst du es, der mich von dem Baby hat träumen lassen - damit ich dich verstehe, damit ich Mitleid habe, damit ich nicht merke, was für ein - für ein - Scheusal du bist!«, rief ich und meine Worte taten mir selbst weh. Erbost erhob ich mich aus meinem Sessel. Das Kätzchen stob beleidigt davon und suchte Schutz auf Colins linker Schulter.
»Nein, Ellie, so ist es nicht«, entgegnete er ruhig und sehr traurig.
»Oh doch! So ist es - genau so und nicht anders«, schrie ich und stampfte mit meinem nackten Fuß auf. Ich war es überdrüssig, ein Spielball für irgendwelche geisteskranken Nachtmahre zu sein.
»Dann können mein Vater und du euch die Hand reichen. Tut euch doch zusammen! Ihr seid prima im Manipulieren, oder?«
Colin schüttelte stumm den Kopf und fuhr sich gereizt durch sei ne züngelnden Haare.
»Elisabeth.«
»Nix Elisabeth. Schluss damit. Ihr könnt mich mal! Mein Vater hat mich ständig einschlafen lassen, damit ich nicht zu dir gehen oder mir überhaupt Gedanken darüber machen kann, wie ich es anstellen könnte, dich wiederzusehen dann schickt er mir eine ganze Spinnenarmee in mein Zimmer, er löscht meine Erinnerungen an dich, er macht mich krank - und du, du hast nichts Besseres zu tun, als meine Träume zu beeinflussen - und die waren das Schönste, was ich in den ganzen letzten Wochen überhaupt hatte!«
Ich musste meine Schimpfkanonade unterbrechen, weil mir die Luft ausblieb. Gerne hätte ich Colin mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen - ein Gesicht, das ich inzwischen liebte. Dieses Gefühl ließ sich nicht einmal von meinem Zorn einschüchtern.
»Wie konnte ich nur so blöd sein«, flüsterte ich und drehte mich von ihm weg, damit er nicht sah, wie meine Lippen zitterten.
»Du kannst mich gerne hassen. Die meisten Menschen tun das. Ich bin es gewöhnt. Aber hasse nicht deinen Vater. Er war es nicht.«
»Klar, ihr haltet zusammen.«
»Nein. Dein Vater mag ein eindrucksvoller Kerl sein, aber das kann er nicht. Ich war es, Ellie. Ich habe versucht, dich aufzuhalten. Ich habe dich müde gemacht, dir Spinnen geschickt, dich krank werden lassen - und dann ging mir deine Sturheit langsam gehörig auf die Nerven.«
Noch immer drehte ich ihm den Rücken zu. Hatte ich Colin richtig verstanden? Wie konnte er von meiner Horrorfantasie wissen? Natürlich, die Szene in der Turnhalle - er musste meine
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