Splitterherz
Brief fallen und drehte mich schwungvoll vom Tisch weg. Es gab doch noch so viel anderes zu tun. Briefe lesen konnte ich später. Ich trat in den sonnendurchfluteten Garten und griff nach der Gießkanne. Hm. War das klug? Verdorrte Pflanzen wären ein schöner Beleg dafür, dass ich nicht zu Hause, sondern brav auf Ibiza gewesen war. Also ging ich unverrichteter Dinge zurück ins Haus und streifte durch die Räume. Eigentlich durfte ich nicht einmal eine Rolle Klopapier verbrauchen. Alles, was ich tat oder nicht tat, hinterließ Spuren.
Nach zehn rastlosen Minuten saß ich wieder im Wintergarten und starrte auf den Brief. Gut. Ich würde ihn lesen, danach im Internet ein Ticket nach Ibiza ordern und Jenny und Nicole nachfliegen. Es sei denn ...
Hastig zog ich den Briefbogen heraus und faltete ihn auf. Mein Herz schlug so ungeduldig, dass ich die ersten Sätze nur entzifferte, aber nicht verstand. Ich zwang mich, noch einmal von vorne zu beginnen.
»Guten Morgen, Du Nervensäge.
Da Du ja doch nicht aufhören würdest, mir Löcher in den Bauch zu fragen, und die Nacht noch so schön finster ist, nutze ich die Zeit, um Dir ein paar weitere komplizierte Sachverhalte zu liefern. Bitte erwarte nicht, dass ich Dir maile oder simse (zwei grausame Wörter übrigens). Ich weiß durchaus mit einem Computer umzugehen, leider aber der Computer nicht mit mir. Alles, was mit Funk, Netzwerken und modernen Telefonverbindungen zu tun hat, kollabiert in meiner Gegenwart früher oder später. Das ist auch der Grund, weshalb Louis und mir Springturniere verwehrt bleiben - wir haben es versucht, aber jedes Mal gab es Probleme mit der Zeitmessung. Sie setzte aus. Sehr schade, denn Louis ist eine grandiose Hüpfdohle.«
Ich musste lachen. Waren deshalb in der Disco und auf dem Fest die Musik und die Lichter ausgefallen? Und mein Handy - diese dauernden Funklöcher. Lag es am Ende an Colin? War er in der Nähe gewesen? Mein Lachen erstarb. Ja, ich wünschte mir seine Gegenwart herbei. Aber die Vorstellung, dass er schon in der ersten Nacht hier irgendwo gelauert hatte, gefiel mir trotzdem nicht.
»Ich passe also ganz gut in den Wald. Denn hier wimmelt es von Funklöchern. Die Telefongesellschaften haben noch genügend zu tun, bis sie feststellen, dass sie ein Funkloch nicht in den Griff bekommen. Bis dahin bin ich wahrscheinlich gar nicht mehr hier.
Aber Du hast nach den Menschen gefragt - nach ihren Reaktionen. Sieh das nächste Mal genau hin. Nicht alle reagieren >seltsam< auf mich. Da sind die Menschen, die ihre festen Schubladen haben. Man könnte auch sagen, sie sind einfach gestrickt. Ich passe nicht in ihr Schema vom Leben. Ich störe ihre Ordnung. Sie haben Angst, wenn ich in ihre Nähe komme, aber sie sind zu gefangen in ihren Gewohnheiten, um diese Angst wirklich zu erkennen. Deshalb brechen niedere Instinkte durch. Neid, Argwohn, Eifersucht, meistens auch Hass. Es hilft ihnen, mit mir umzugehen. Und dann gibt es Menschen - es sind wenige, aber es gibt sie -, die offen und neugierig sind, die noch nach etwas suchen, die selbst die Rolle des schwarzen Schafes einnehmen. Unter den Erwachsenen sind sie rar. Meistens sind es Jugendliche. Sic schauen mich anders an. Neugierig, aufmerksam und gespannt. Ich muss aufpassen, damit sie mir nicht zu nahe kommen. Vielleicht spüren sie meine Zerrissenheit. Oder sie sehen mich als Idol. Im Karate passiert das hin und wieder. Sie trainieren dann bis zur Selbstkasteiung, um es mir gleichzutun. Es sind meine besten Schüler, aber sobald sie erwachsen werden und ihre Zerrissenheit mit Vernunft und festen Gewohnheiten übertünchen, wenden sie sich gegen mich.
Apropos Karate. Die Sache mit der Körperbeherrschung. Dadurch, dass ich mich von oben betrachten kann, habe ich die Möglichkeit, meine Bewegungen immer und immer wieder zu überprüfen und Fehler auszumerzen. Das macht das Training nicht leichter, eher härter.
Vor allem intensiver. Es hilft auch ungemein bei den Dressurübungen. Allerdings hasst Louis es, wenn mein Geist sich über meinen Körper erhebt. Er möchte mich ganz bei sich haben. Das ist auch ein Grund, weshalb ich ihn um nichts in der Welt wieder hergeben würde.
Die Sonne geht bald auf, ich muss schließen, wenn ich diese Zeilen noch in der Dämmerung bei Dir einwerfen möchte. Es ist nicht so, dass ich die Sonne nicht mag. Ich erinnere mich gut daran, wie schön es sein kann, wenn sie einem nach einem harten Arbeitstag die
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