Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
Urlaubsverweigerung? War ich tatsächlich in Gefahr?
    Wenn ja, dann hatte ich mich ausgeliefert. Dann konnte ich so­wieso nichts mehr dagegen tun. Aber ich musste das Unglück auch nicht herbeibeschwören. Ich ließ alle Rollläden herunter und zog mich bis auf die Unterwäsche aus. Dann legte ich mich wieder aufs Bett und wartete, bis ich so müde wurde, dass selbst die unter­schwellige Furcht, die seit dem Fund der Karte in meinem Magen nagte, kapitulierte.
    Noch während des Einschlafens nahm ich mir vor, abends einen großen Teller Nudeln zu essen und mich ganz normal vor den Fern­seher zu setzen. Ohne elterliches Schweigen, ohne Ermahnungen, ohne riskante Zwischenwelten. Es schien mir das Paradies zu sein.
    Dann kam der Schlaf und ich ahnte, dass das Paradies längst ver­loren war.
     

    Apokalypse
     
     
    Ich kannte diesen Traum. So oft schon hatte ich mich darin ver­loren. Und doch war ich mir nicht sicher, ob es ein Traum war oder diesmal Wirklichkeit. Vielleicht gehörte er zu einem jener Albträu­me, die irgendwann tatsächlich wahr wurden?
    Ich lief durch die Stadt, an einem warmen, sonnigen Tag, und plötzlich hielt die Welt den Atem an. Sie waren da - überall. Düsen­jäger kreuzten viel zu tief den Himmel, verloren ihren Kurs und trudelten unaufhaltsam auf uns herab. Ihre Motoren dröhnten so laut, dass ich die Schreie der Menschen um mich herum nur sehen, nicht aber hören konnte. Sie rannten um ihr Leben. Doch es machte keinen Sinn zu fliehen. Es ging zu schnell. Ein Flieger nach dem anderen stürzte auf die Dächer und ging in Flammen auf.
    Das war erst der Auftakt. Wer jetzt überlebte, wurde mit dem qualvollsten aller Tode dafür belohnt. Ich wusste, dass ich sterben würde, also konnte ich auch dabei zusehen, wie sich der todbrin­gende Pilz am Horizont erhob, apokalyptisch schön, ja beinahe würdevoll. Ein langer, eleganter Schlauch und darüber baute sich geisterhaft langsam die rot lodernde Wolke mit ihren Abertausend Rundungen und Schattierungen auf, deren giftiger Staub die Sonne zu ersticken begann. Das war das Ende der Welt. Ich würde meine Eltern nie Wiedersehen. Ich konnte ihnen nicht mehr sagen, dass ich sie liebte. Und obwohl es das Ende war, wachte ich nicht auf. Dies­mal war es kein Traum. Denn es ging weiter.
    Ich hielt meine weit geöffneten Augen in das gleißende Licht und lief ziellos an den wimmernden Menschen vorbei. Trümmerberge versperrten mir den Weg, aber ich wollte nicht stehen bleiben. So­lange ich lief, lebte ich. Ich kletterte über glühende Steine, bahnte mir meinen Weg durch zerborstenen Beton und zog mich an bren­nenden Planken empor, bis ich mich in eine schmale Gasse zurück­ziehen konnte. Sie endete vor einem Haus, das den Flammen bis­lang widerstehen konnte. An der efeubewachsenen Wand lehnte ein junger Mann. Er sah mir entgegen, als habe er auf mich gewartet. Ich erkannte ihn sofort und saugte seinen Anblick sehnsüchtig in mich auf; seine weichen dunklen Augen, die Grübchen in den Wan­gen, das verschmitzte Lächeln, das ihn selbst jetzt nicht verlassen hatte.
    Er griff nach meinen Armen und zog mich sanft an sich heran, bis ich meinen Kopf an seine Brust lehnen konnte. Endlich, dachte ich. Ich hatte mich nicht geirrt. Er hatte mich doch wahrgenommen, all die Jahre. Er hatte mich gemeint.
    »Grischa«, flüsterte ich. Es war so schön, seinen Namen ausspre­chen zu dürfen, ohne dabei alleine zu sein. Wir würden nicht über­leben. Aber ich war bei ihm. Es war so, wie es sein sollte.
    Die Motoren der Flieger und das Kreischen der Menschen um uns herum verebbten. Es wurde ruhig und die Hitze des Feuers milderte sich ab, bis uns Kühle umfing. Doch noch immer lehnte meine Stirn an Grischas Brust. Seine Hände legten sich behutsam auf meine Schultern und strichen meinen Rücken entlang. Aber warum waren sie so kalt? Waren wir etwa tot? War das hier der Tod?
    Minutenlang verharrte ich, wie ich war, den Kopf an Grischas Herz gelehnt, und hörte blind zu, wie die Welt um uns herum stiller und kälter wurde. Sein Herz schlug nicht. Meine Hände aber waren warm und mein Atem floss ruhig und gleichmäßig durch meinen Körper.
    Ich lebte immer noch. Das war kein Traum. Ich schlug die Augen auf.
    »Ich bin es nicht«, sagte Colin leise und fuhr mir beruhigend mit seinen kalten Händen über den Rücken, bevor er mich von sich wegschob, damit ich ihn ansehen konnte. Ja. Es war Colin. Colin, nicht Grischa. Seine schrägen Augen glitzerten und seine

Weitere Kostenlose Bücher