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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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trat ein paar Schritte zurück. »Ellie?«
    »Ja?«
    Colin war kaum mehr zu erkennen. Seine Gestalt verschmolz mit der hoch aufragenden Burgruine hinter ihm.
    »Es wird die Träume nicht vertreiben können, aber - gibt es je­manden in deinem Leben, den du sehr vermisst? Vielleicht ist dieser Grischa gar nicht Grischa. Gute Nacht.«
    Ich konnte ihn nicht mehr sehen. Er war verschwunden. Einsam und verlassen streckte sich die Ruine in den samtenen Nachthim­mel.
    »Ja«, antwortete ich tonlos. »Paul. Meinen Bruder.« Und wenn es so kam, wie ich fürchtete, würde ich ihn womöglich niemals Wie­dersehen.
    Das Dorf lag wie ausgestorben vor mir, als ich mit wehendem Nachthemd den Feldweg hinuntereilte, durch die offen stehende Wintergartentür ins Haus huschte und mich in mein warmes, wei­ches Bett vergrub.
    »Bleib bloß fern von mir«, wisperte ich drohend. »Hast du gehört, Colin? Und geh nie wieder weg.«
    Mit klopfendem Herzen lag ich wach, bis die Sonne aufging.
     

    Jagdfieber
     
    Es war anders, als ich gegen Abend aufwachte. Ja, es tat anders weh. Zum ersten Mal nach einem solchen Traum hatte ich nicht das Ge­fühl, ich müsse Grischa sofort googeln, nach einem Foto suchen, nach Hinweisen, nach irgendetwas - nach einem Beweis, dass ich mich in ihm nicht geirrt hatte. Doch Grischa gehörte zu den weni­gen Menschen, die keine Spuren im Netz hinterließen. Als würde es ihn gar nicht geben. Vermutlich war sein Leben so prall und glück­lich, dass er weder Zeit in Foren noch in Blogs verbrachte.
    Jetzt aber hatte ich anderen Kummer. Colin-Kummer. Ein Kum­mer, der zu achtzig Prozent aus Wut und zu zwanzig Prozent aus Sehnsucht bestand. Oder doch eher umgekehrt? Er hatte nicht ein­mal gefragt, wer Grischa überhaupt war. Woher sollte er wissen, dass er möglicherweise nur ein Symbol für meinen verschollenen Bruder war? Waren ihm meine Gefühle denn völlig gleichgültig? Andi hätte getobt, wenn er mich bei einem solchen Traum beobach­tet hätte. Und Colin? Der tat es mit einem Schulterzucken ab. Also waren wir wohl nur so etwas wie Freunde.
    »Freundschaft«, murrte ich missgelaunt, als ich spätabends mit einem großen Teller Nudeln, der mich nicht im Geringsten trösten konnte, auf meinem Bett saß. Freundschaft war zwar besser als nichts. Aber es war auch das, was fast immer für Mädchen wie mich übrig blieb. Ein miserables Trostpflaster.
    Andererseits war da diese andere Sache, dass er in meine  Tagträu­mereien eindrang ... Alles Berechnung, wie Papa behauptete? Wa­ren Mahre gar nicht zu echten, aufrichtigen Gefühlen fähig? Zielte alles, was Colin tat, darauf ab, mich emotional aufzuputschen, um dann hinterrücks zuzuschlagen?
    »Schluss jetzt«, verbat ich mir laut jedweden weiteren Gedanken über Sir Blackburn. Dafür war es ohnehin zu spät. Erneut wanderte mein Blick zu der Tarotkarte. Kurz nach dem Aufwachen war sie mir wieder eingefallen und ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Ich konnte sie nicht wegwerfen, aber ich wollte sie auch nicht mehr be­rühren. Wenn ich es doch tat, fühlten sich meine Finger so be­schmutzt an, dass ich nicht widerstehen konnte, sie gründlich zu waschen. Schließlich hatte ich die Karte angeekelt auf meinen Nachttisch gelegt und nun konnte ich meine Augen nicht mehr da­von lösen.
    Ich stellte die Nudeln auf den Fußboden und streckte mich lang aus. Ich hatte mir vorgenommen, heute Nacht zu schlafen. Ganz normal. Doch meine Arme und Beine blieben unruhig und mein Puls stolperte nervös vor sich hin. Wenn ich es schaffen würde, eine Nacht zu schlafen, zumindest eine halbe, würde sich vielleicht auch die schmerzende Klammer um mein Herz wieder lösen.
    Sie löste sich nicht, aber meine Lider schlossen sich und meine Gedanken gingen auf Reise. Sie kehrten zurück zur verfallenen Burg und Colins rätselhaft wehmütigem Lächeln - und zu Mister X, der neben uns saß, uns mit seinem dicken schwarzen Schädel auseinan­derschob und laut schnurrte. So laut, dass es in meinen Ohren vib­rierte.
    Das ist kein Schnurren, meldete sich mein Bewusstsein sachlich zu Wort und schob die Traumbilder weg. Es war mein Handy. Brummend und leuchtend rutschte es auf der Fensterbank Rich­tung Abgrund. Geistesgegenwärtig hechtete ich aus dem Bett und fing es auf, bevor es zu Boden fallen konnte. Das Brummen ver­stummte. Also nur eine SMS. Eine hintersinnige Fangfrage meiner Mutter vielleicht?
    Nein, das war keine Fangfrage. Das war ein Befehl.
    »KOMM RUNTER«, stand in

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