Splitterherz
lochen, doch die Mechanik klemmte. Gereizt knallte er den Locher gegen den Kamin. Er öffnete sich und weißes Konfetti wirbelte wie verirrter Schnee durch die schwüle Luft.
»Hat’s nicht gut geschmeckt heute Nacht?«, fragte ich spitz. Vielleicht spielte ich mit dem Feuer. Aber das war immer noch besser, als das zu tun, wonach mir eigentlich war: mich heulend auf den Boden zu werfen.
Endlich drehte Colin sich um und sein missmutiger Blick wandelte sich in pures Erstaunen, als er mein Gesicht sah. Na endlich. Sofort stand er auf und kam mit gerunzelten Brauen auf mich zu. Instinktiv zuckte ich zurück, als er die Hand hob.
»Hey, ich tu dir nichts«, raunte er und zog mich zur Treppe.
»Das dachte ich von Tillmann auch«, greinte ich.
»Komm mit hoch. Ich muss mir das genau anschauen.«
Im Badezimmer nahm ich auf dem umgeklappten Toilettendeckel Platz, während Colin mit kühlen, tröstenden Fingerspitzen mein Auge untersuchte. Es tat weh, doch ich atmete flach weiter, ohne zu jammern.
»Und was ist das? Ein Knutschfleck?«, fragte er spöttisch und berührte meinen Hals. Ich zog es vor, nichts zu erwidern. Nach Scherzen war mir nicht zumute.
»Das wird alles wieder verheilen. Es braucht nur ein wenig Zeit.« Er musterte mich ausführlich. In seinen Augen verblassten letzte eisblaue Sprenkel. Ich versuchte ihm auszuweichen, doch er nahm mein Kinn in seine Hände, sodass ich ihn anschauen musste.
»Warum ziehst du überhaupt Hemden an, wenn du sie nicht zuknöpfst?«, fragte ich kläglich. »Und was sind das für Papiere da unten?«
»Unikram. Ich schreibe demnächst Klausuren«, sagte er und machte eine abwertende Handbewegung. Auf die Sache mit dem Hemd ging er gar nicht erst ein. Trotzdem zupfte ich an dem weichen, dünnen Stoff, der erneut mehr freigab, als er verhüllte.
»Es ist alt, oder?« Nun klang meine Stimme schon wesentlich friedlicher.
Colin nickte. »Etwas mehr als hundert Jahre. Ich weiß nicht, wie oft ich es schon geflickt und ausgebessert habe. Versuch das mal mit euren billigen Made-in-China-Klamotten. Die überleben nicht mal zwei Sommer.«
»Und deine Stiefel?«, hakte ich nach. Er war zwar wieder barfuß, aber die verwesenden Stiefel und Colin, das gehörte in meinem Kopf einfach zusammen. »Lebt der Schuster noch?«
»Ich könnte mit ihnen auf seinem Grab tanzen«, flachste er mit einem schiefen Grinsen. »Das ist ein typischer Nachtmahrtick. Alte Sachen aufheben. Ich bin nicht der Einzige, der das tut.«
Wir schwiegen eine Weile. Ich wunderte mich kaum, dass er nicht fragte, wie ich mir meine Verletzungen zugezogen hatte. Entweder wusste er es oder er konnte es sich denken. Unser kurzes Gespräch hatte mich besänftigt. Hier im Bad war es angenehm frisch. Trotzdem lupfte ich meine dichten Haare, damit Luft an meinen verschwitzten Nacken gelangen konnte.
»Ich weiß, er ist jünger - aber irgendwie haben wir uns verstanden«, kam ich noch mal auf Tillmann zurück und verschwieg wohlweislich, dass er sich geweigert hatte, seine Verfolgungen aufzugeben. Für heute hatte ich mir genug Schelte eingebrockt. Vielleicht war es ja auch pure Sturheit gewesen und er besann sich eines Besseren.
»Du machst dir Gedanken über den Altersunterschied?« Colin lachte. »Zwischen uns beiden liegen gut 140 Jahre. Das scheint dich ja auch nicht zu beunruhigen.«
Er ließ sich im Schneidersitz auf dem flauschigen Badezimmerteppich nieder und blinzelte mich amüsiert von unten an. Ein merkwürdiges Rendezvous war das. Aber es störte mich nicht. Es war so schön privat.
»Na ja - es kommt darauf an, welches gefühlte Alter du hast. Ansonsten hast du dich ja ganz gut gehalten.«
Ganz gut. Was für eine Untertreibung. Die Schatten unter seinen Augen waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Seine Haut schimmerte makellos wie immer. Und dann die Haare - ich musste sie einfach berühren. Zaghaft streckte ich meine Hand aus und nahm eine Strähne zwischen meine Finger. Sie bewegte sich sofort, sanft und geschmeidig, doch sie hinterließ ein Prickeln auf meiner Hand, als hätte ich einen kleinen Stromschlag verpasst bekommen. Colin wartete mit halb geschlossenen Lidern, bis ich mit meiner Untersuchung fertig war. »Mein Lebensgefühl ist wohl das eines Zwanzigjährigen«, sagte er schließlich nachdenklich. »Natürlich ziehen so viele Jahre nicht spurlos an einem vorüber. Die Seele verändert sich. Trotzdem - das Alter ist nur eine Zahl. Du bist ja auch
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