Splitterherz
mich ab und schoss nach vorne. Ha!, wollte ich rufen. Doch mein Siegesschrei erstarb. Bevor ich ihm die Karte entreißen konnte, hatte er mich an der Kehle gepackt und brutal gegen das eiserne Geländer neben den Eingangsstufen geschleudert. Zielsicher traf seine Faust mein Auge. Ich bekam keine Luft mehr und Lichtblitze zuckten vor meinem Sichtfeld. Trotzdem holte ich mit dem Knie aus und hieb es mit Schwung zwischen seine Beine. Ruckartig wich er aus, was ihn dazu zwang, seinen Griff um meine Kehle zu lockern. Ich drehte meinen Hals aus seinen kräftigen Händen und begann zu schreien.
»Hör endlich auf, du blöder Idiot, ich bin’s!« Ich musste würgen. Noch immer hatte ich den Eindruck, seine Finger würden sich um meine Gurgel schließen. Mein Mund war voller Speichel. Undamenhaft spuckte ich aus und rang nach Luft. Meine Augen tränten und mein Jochbein fühlte sich an, als sei es gebrochen. Tillmann hielt inne.
»Ellie?«, tönte seine erwachsene Stimme fragend aus dem Halbdunkel vor mir. Ohne etwas zu erwidern, torkelte ich durch den Hof in den Wintergarten. Wenige Atemzüge später riss ich von innen die Haustür auf. Tillmann stand mit hängenden Armen vor mir im Windfang. Zögerlich bückte er sich und hob den Briefumschlag auf, der bei unserer Rangelei zu Boden gegangen war. Ich schnappte ihn mir.
»Darf ich raten?«, zischte ich wütend. »Die Liebenden? Der Tod? Der Gehängte?« Während ich oben auf der Lauer gelegen hatte, war ich noch einmal Mamas Tarotbuch durchgegangen und hatte mir jene Karten eingeprägt, die ich als unheilvoll empfand. Und es musste ja wohl etwas Unheilvolles sein. Tillmann blickte mich erstaunt an.
»Die Liebenden. Es sind die Liebenden«, sagte er ruhig. Nichts in seiner Miene verriet, dass er eben noch wie ein außer Rand und Hand geratener Derwisch auf mich losgegangen war. Die Blitze vor meinem Sichtfeld wurden blasser, doch nun schwoll mein Auge zu.
»Das wird mir langsam ein bisschen unheimlich«, murmelte Tillmann und schaute mich fragend an. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«
Empört schüttelte ich den Kopf. »Was ich mir dabei gedacht habe?«, herrschte ich ihn an. »Dir wird es unheimlich? Wer wirft mir denn Steine mit gruseligen Karten ins Haus, nachts, während draußen die Welt untergeht?«
»Es war nur ein Stein«, korrigierte Tillmann mich penibel.
»Halt die Klappe und lass mich gefälligst ausreden«, unterbrach ich ihn unwirsch. Im Nachbarhaus ging Licht an. Ich packte Tillmann am Arm und zog ihn in den Flur. Ich hatte keine Lust, dass unser frühmorgendlicher Disput zu einer öffentlichen Angelegenheit wurde. Es reichte, dass ich die nächsten Tage mit einem blauen Auge herumlaufen musste. Sobald wir im Wohnzimmer waren, brüllte ich weiter. Tillmann hörte mir regungslos zu.
»Wenn hier jemand fragen muss, was das Ganze soll, dann bin das ja wohl ich!«, schrie ich ihn an. »Sag es mir doch ins Gesicht, wenn du mir etwas mitteilen willst. Aber veranstalte hier nicht so einen - Mummenschanz!« Aufgepeitscht lief ich auf und ab, während Tillmann sich wie selbstverständlich auf unser Sofa setzte.
»Mummenschanz. Das ist aber ein schönes Wort«, bemerkte er altklug. »Und es gibt keinen Grund, sich so aufzuregen.«
»Nein?«, fuhr ich ihn an und deutete anklagend auf mein zugeschwollenes Auge.
»Ich meinte die Karten. Das andere war pure Selbstverteidigung. Ich wusste ja nicht, dass du im Rhododendron übernachtest.«
Stöhnend ließ ich mich auf Mamas Lesesessel fallen. Er gab ächzend nach und mit einem Klacken entriegelte sich die Fußstütze. Meine Beine wurden unsanft nach oben katapultiert. Ich lugte zu Tillmann hinüber. Natürlich grinste er. Doch ich war nicht mehr fähig, mich zu erheben und ihn zu ohrfeigen, wie ich es gerne getan hätte. Ich begnügte mich mit einem Stinkefinger.
»Tarot funktioniert so nicht«, sagte er mit schulmeisterlichem Unterton. »Es hat keinen Sinn, wenn ich dir die Karten deute. Das musst du schon selbst tun. Ich hab sie nur gezogen. Die Liebenden sind übrigens keine schöne Karte.«
»Ach«, erwiderte ich trocken. Wer hätte das gedacht. »Und warum legst du überhaupt Karten für mich?«
»Weil ich glaube, dass du in Gefahr bist. Ich hatte einen seltsamen Traum. Fast schon eine Vision. Und ich dachte, ich informiere dich besser.« Er hustete kurz. »Du solltest Eis auf dein Auge tun.«
Na, da hatte er seine Vision ja vortrefflich in die Tat umgesetzt. Colin hatte mich bisher
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