Splitterherz
jedenfalls noch nicht verprügelt. Ich schloss ermattet die Augen und dachte nach. Gut, Tillmann hatte keine bösen Absichten. Höchstens Ahnungen. Und ich schätzte ihn auch so ein, dass er sich zwar von allem Übersinnlichen faszinieren ließ, aber zu nüchtern dachte, um sich vollends darin zu verlieren. Er experimentierte lediglich. Er war auf der Suche. Und wenn mich nicht alles täuschte, steckte hinter alldem eine große Einsamkeit. Umso schwerer fiel es mir, nun Klartext zu reden. Aber es musste sein.
»Hör auf, mich zu verfolgen«, sagte ich streng. »Und hör vor allem auf, Colin zu verfolgen. Das ist nicht gut.«
»Du hast mir nichts zu befehlen, Ellie.«
»Tillmann, das hier ist kein Teekränzchen mehr. Ich sage das nicht, weil ich dich loswerden will. Sondern weil es sein muss!«, rief ich und stand von Mamas Sessel auf. Kurz flimmerte alles vor meinen Augen. Oder war es die Sonne, die eben aufgegangen war und den Wintergarten in helles rötliches Licht tauchte?
»Nein«, entgegnete er abweisend. »Warum sollte ich auf dich hören?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Nein«, wiederholte er beharrlich. »Weißt du - das ist nicht fair. Ich hab dir vertraut und dich mit in den Wald genommen. Ich hab auf meinen Traum gehört und die Karten gelegt. Und jetzt kommst du hier an und verbietest mir etwas, ohne es zu begründen. Das find ich scheiße.«
Er erhob sich, nahm die Tarotkarte vom Wohnzimmertisch und riss sie entzwei.
»Da!«, fauchte er und warf sie vor meine Füße, bevor er mit schnellen Schritten den Raum verließ. Drei Sekunden später knallte die Haustür. Das Windspiel im Wintergarten klirrte leise.
»Oh Mann«, jammerte ich und setzte mich auf den Boden. »Ich hab langsam genug von dem ganzen Theater.«
Die Liebenden ... Ich nahm die beiden Kartenhälften und fügte sie wieder aneinander. Er hatte mich warnen wollen. Und ich vertrieb ihn aus meinem Leben, während Colin dem Rotwild Brunftträume aus dem Schädel saugte. Ich holte Papas Migränekühlkissen aus dem Eisschrank und schleppte mich nach oben. Angezogen legte ich mich auf mein Bett und das Kühlkissen auf mein Auge. Ich brauchte dringend eine Pause. Ich musste etwas essen, meine Wunden versorgen, mich waschen. Aber vor allem musste ich schlafen.
Mit einer Hand zog ich die dünne Sommerdecke über meine schmerzenden Schultern.
Der Vogel am Waldrand - schrie er eigentlich noch? Ehe ich auf seine Rufe lauschen konnte, war ich tief und fest eingeschlafen.
Nackte Tatsachen
»Ich hab ihn gemocht.« Ich klang vorwurfsvoll. Doch es stimmte. Ich hatte Tillmann gemocht und nun war ich gezwungen gewesen, unsere beginnende Freundschaft im Keim zu ersticken. Ich hatte ihm einen Brief schreiben wollen, musste aber zu meiner Schande feststellen, dass ich nicht einmal seinen Nachnamen kannte. Doch selbst wenn - ich konnte ihm ja doch nicht erklären, warum ich das tun musste.
Und weil Colin der einzige Mensch - zumindest so etwas Ähnliches - war, mit dem ich noch reden konnte, war ich gegen Abend einfach zu ihm spaziert. Ich sah übel aus. Mit Blutergüssen am Hals, Prellungen im Rücken und an den Rippen und einem violett zugeschwollenen Auge.
Doch Colin drehte mir weiterhin seine Kehrseite zu und sortierte auf dem Boden kniend stapelweise Papiere und Unterlagen. Er hatte mich bislang kein einziges Mal angesehen.
»Es ist verdammt schwer für mich, Freunde zu finden«, redete ich weiter. »Und er ist jedenfalls kein Freund mehr.«
»Das ist leider der Lauf der Dinge«, sagte Colin nur und sortierte weiter.
»So, ist es das«, erwiderte ich giftig.
Colin feuerte einen Stapel Papier in die Ecke, sodass die Blätter wild durcheinanderflatterten, und atmete schwer durch. Meine Güte, hatte der eine Laune. Ähnlich mies wie meine. Heute Morgen hatten sie im Radio irgendetwas vom heißesten Tag des Jahres geredet und bereits damit gedroht, dass anschließend die Hitze ein Ende habe. Der Herbst käme früh in diesem Jahr. Draußen hatte es schon über 30 Grad und die redeten vom Herbst. Ich hasste es. Und nun stand ich hier, in Colins Haus, und er setzte meiner Stimmung die Krone auf, indem er Papiere durch die Gegend pfefferte und mich ignorierte.
»Ellie«, seufzte er griesgrämig. Seine Ruhe klang erzwungen. »Ich habe dich nicht darum gebeten, dich mit mir einzulassen. Freunde zu verlieren, gehört dazu. Aber du musstest ja immer wiederkommen.«
Er versuchte, einen der vielen Papierstapel zu
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