Splitterherz
bescheuert. Ich weiß, dass ich dich niemals vergessen werde. Du bist mein Mann. Basta.«
Aber was hätte ich schon tun können? Tessa war unterwegs. Und ich hatte keine Ahnung, was Colin plante. Ich glaubte ihm kaum mehr, dass er es selbst nicht wusste. Ich spürte, dass seine Gedanken noch schneller rasten als meine. Doch er würde sie mir nicht mitteilen, weil sie mich in Gefahr bringen konnten.
Das hatte er mir heute Morgen eindringlich klargemacht. Tessa war gefährlich. Und wenn sie schaffte, was sie vorhatte, dann war auch Colin gefährlich. Noch viel gefährlicher als jetzt.
»Ellie, muss ich dich in dein Klassenzimmer tragen?«
Mit tränenblinden Augen schaute ich ihn an, doch er hatte den Blick fest nach draußen gerichtet. Ein letztes Mal studierte ich sein außergewöhnliches, stolzes Profil. Seine ausgeprägten Wangenknochen, die scharf geschnittene Nase. Diese fast mädchenhaft langen, gebogenen Wimpern. Ich beugte mich vor und küsste seine bebenden Ohrspitzen.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Jede Abschiedsfloskel war Hohn. Colin würde mich überleben. Selbst wenn ich ihn in zwanzig Jahren auf irgendeiner Insel zufällig wiedertreffen würde - er wäre nach wie vor jung und schlank und gefühlte zwanzig und ich hätte Orangenhaut und Hängebrüste.
Er drehte sich nicht zu mir um. Er wirkte kalt und unberührt, doch das Rauschen in seinem Körper pulsierte hitzig. Mit letzter Kraft schob ich mich aus der geöffneten Autotür und stolperte die Schultreppe hoch.
In der ersten Pause schloss ich mich in der Toilette ein, um in Ruhe zu weinen und nachzudenken. Beides gleichzeitig funktionierte nicht gut. Deshalb zwang ich meine Tränen hinunter und bemühte mich, klare Gedanken zu fassen.
Was würde Colin tun? Fliehen? Um dann wieder in der Weltgeschichte herumzuirren, bis er so einsam und unglücklich war, dass Tessa seine Fährte verlor? Gab es denn überhaupt eine Alternative?
Ja, es gab sie. Ich wusste nicht, wie Tessa aussah. Doch sie musste überirdisch schön sein. Das, was ich von ihr gesehen hatte, war nicht nur hässlich, sondern auch abstoßend gewesen. Deshalb musste ihr Gesicht ein Kunstwerk der Natur sein. Mit ihm hatte sie Colin schwach gemacht. Nachtmahre alterten nicht. Es würde ihr wieder gelingen. Und vielleicht, vielleicht gab es einen Teil in Colin, der sich ihr immer noch liebend gerne hingeben würde. Sein Hass war glaubwürdig gewesen - aber hielt er auch stand, wenn Colin Tessa leibhaftig vor sich sah?
Ich musste damit rechnen, dass sie ihn ein weiteres Mal überwältigte. Möglicherweise sehnte er sich sogar danach. Wenn das so war, dann konnte ich nichts dagegen ausrichten.
Und ausgerechnet ich selbst war schuld an alldem. Weil ich Colin nicht in Ruhe gelassen, ihn immer wieder aufgespürt hatte. Und nicht begreifen wollte, dass genau das ihn in Gefahr brachte.
Es war ausweglos. Nicht einmal bis zum bitteren Ende durfte ich bei ihm bleiben. Erstens würde es Tessa noch schneller zu ihm führen. Und zweitens - zweitens war die Rache der Nachtmahre keine Sache, die man auf die leichte Schulter nehmen durfte. Das hatte Colin mir unmissverständlich eingetrichtert.
Allerdings hätte ich im Moment nichts dagegen gehabt, ein wenig zu sterben. Zumindest für eine Weile. Einfach nicht mehr sein, um nicht fühlen zu müssen. Und erst dann aufzuwachen, wenn ich die Wirklichkeit wieder aushalten konnte.
Nach der Schule ließ ich mir von Herrn Schütz ein paar weitere zum Tode verurteilte Heimchen geben und fuhr nach Hause. Mama hatte sich beruhigt. Sie stellte keine Fragen. Papa strafte mich mit Nichtachtung. Ansonsten taten beide so, als wäre alles wie immer und als hätte es meinen verweigerten Ibizaurlaub und Colin niemals gegeben. Ich spielte mit. Ich wollte einfach nur meine Ruhe haben.
Papa war kaum noch bei uns. Er verbrachte fast Tag und Nacht in der Klinik, um die liegen gebliebene Arbeit aufzuholen. Mama wütete im Garten und verlor den Wettlauf mit dem Herbst. Alles, was vor ihrem Urlaub noch so schön und kräftig geblüht hatte, verfaulte ihr unter den Händen. Die Erde in den Hochbeeten roch nach Verfall. Überall zogen sich schleimige Schneckenspuren über das fleckige Grün. Die Rosen welkten.
Meine wirren Träume steigerten sich zu Albträumen, aus denen ich schweißgebadet und mit schmerzender Brust erwachte. Nun suchte ich nicht mehr in fremden, unordentlichen Häusern nach einem Bett, in dem ich mich endlich schlafen legen
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