Splitterherz
sodass ich mein fiebriges Gesicht auf seine kühle Haut betten konnte. Sie beruhigte mich etwas. Doch das Grauen waberte um uns herum und es schien unausweichlich zu sein.
»Jemand wie Tessa akzeptiert keine Fluchten. Sie hat Zeit. Unendlich viel Zeit. Sie will mich zum Gefährten haben. Deshalb hat sie mich erschaffen. Sohn und Geliebter zugleich. Sie braucht mich auch, weil sie sich kaum mehr zurechtfindet, und sie liebt es, ihre Macht auszukosten. Wenn sie mich findet, wird sie die Metamorphose vollenden und mir den letzten Rest Mensch aus dem Körper saugen. Sie will meine Seele.« Er lachte kalt auf. »Der Gedanke da ran kam mir immer unerträglich vor. Aber jetzt ... Wenn ich dich schützen könnte, würde ich ihr entgegengehen.«
Er sah mich lange an. »Ellie, es ist zu spät. Es trifft uns beide. Entweder sie vollendet, was ich unterbrochen habe, und ich werde eine immense Gefahr für dich und deine Familie, oder sie vernichtet dich selbst. Aber wahrscheinlich will sie uns beide. Ich kann niemanden lieben, ohne ihn und mich in Gefahr zu bringen.«
Mein Zittern wurde stärker. Colin griff nach dem Kilt und wickelte ihn mir um Rücken und Schultern. Dann zog er mich noch etwas näher an sich heran. Unsere Haare begannen, zarte Kletten zu bilden. Ich spürte es als sanftes Prickeln auf meiner Kopfhaut.
»Und was wirst du jetzt tun?«, fragte ich bang.
»Ich weiß es nicht«, gestand er. »Ich habe eben erst erfahren, dass sic unterwegs ist. Ich habe noch keinen Plan.«
»Es ist nicht das erste Mal, oder?«
Colin schüttelte den Kopf. An mir vorbei bückte er sich, hob einen Stapel Platten vom Boden auf und nahm sie so in die Hand, dass ich sie betrachten konnte. Mir schoss jene eigenartige Vision in den Kopf, die ich auf der 80er-Jahre-Partyhalle. Schnelle, kurze Bildfolgen aus einer anderen Zeit. Auch jetzt erschienen mir die Plattencover wie eine Art Déjà-vu - sie waren mir vertraut, obwohl ich genau wusste, dass ich sie noch nie gesehen hatte. Ich kannte fast alle Bands und Musiker.
»Ja, auch da ist es passiert«, sagte Colin leise. »Du bist in meine Erinnerungen abgetaucht. Ich hatte an diese Zeit gedacht, die Zeit vor Tessas letzter Heimsuchung. Es war meine Musik, die lief. New Wave. Wie machst du das?«, fragte er mich rätselnd.
»Ich hab nicht die geringste Ahnung«, gestand ich. »Es ist einfach geschehen.« Ich wusste es wirklich nicht. Bisher hatte ich die blitzlichtartigen Szenen für eine Verirrung meiner Fantasie gehalten. Denn das war schließlich auch nichts Neues.
Colin betrachtete eine Platte von Anne Clark. Sie blickte uns äußerst schlecht gelaunt entgegen. Doch Colin lächelte.
»Ich hab sie live gesehen«, erklärte er. »London, frühe Achtzigerjahre. Es war eine tolle Zeit. Nur merkte ich zu spät, dass es das war. Ich lebte als Straßenkind mit ein paar Jungs und Mädchen in den U-Bahn-Schächten. Ich bin nicht großartig aufgefallen. Alle waren blass und verrückte Haare gehörten zum guten Ton. Irgendwann entwickelten sich aus den gemeinsamen Partys und dem Herumlungern Freundschaften. Ich habe sogar in einer Band gespielt.
Schlagzeug.« Er grinste wehmütig. »Hüte dich vor Schlagzeugern. Das sind die Schlimmsten. Doch, es war das einzige und erste Mal in meinem Leben, dass ich Freunde hatte.«
Ich versuchte vergeblich, die Erinnerung an das lachende Mädchengesicht mit den weichen, vollen Lippen wegzuschieben, das ich in der Disco für den Bruchteil einer Sekunde erblickt hatte. Nicht ich hatte es küssen wollen. Colin hatte es küssen wollen. Ja, er war wohl wirklich glücklich gewesen.
»Hat Tessa dich gefunden? Was ist passiert?«, fragte ich.
»Fast. Ich habe es geschafft, sie abzuhängen, und bin wieder über das Wasser geflohen. Wochenlang war ich auf See, bis ich es gewagt habe, an Land zu gehen. Asien, Südsee, Karibik, immer nur Inseln. Ich war inzwischen wieder so allein, dass sie mich kaum mehr orten konnte. Und so lange wie hier, im Wald, habe ich sie noch nie auf Abstand halten können. Aber ich habe auch noch nie so einsam gelebt. Bis du gekommen bist.«
Auch der wärmende Kilt konnte die Kälte nicht vertreiben, die sich in meinen Knochen festgesetzt hatte. Ich nahm mein Zittern kaum mehr wahr. Colin trug mich nach oben in sein Badezimmer, ließ dampfend heißes Wasser ein und zog mich behutsam aus. Ich wehrte mich nicht. Still betrachtete ich ihn, wie er sich das Hemd über den Kopf streifte und aus seiner Hose schlüpfte. Nur das
Weitere Kostenlose Bücher