Splitterherz
stürzte mich hinab. Kurz streiften mich die Schwingen des Todes, dann wuchsen meine eigenen. Sie waren kräftig und stark. Ich musste sie nur ausbreiten und sie hielten mich.
Mutig und voller Freude am Leben beugte ich meinen beschnabelten Kopf nach unten und schoss hinab, immer wissend, dass ich nur meine Flügel ausbreiten musste, um nicht am Felsen zu zerschmettern.
Ich sah alles. Jedes Blatt, jeden Zweig, jedes winzige Klümpchen Blütenstaub am Bein der Bienen, die emsig die zarten Knospen der Sommerblumen umschwirrten. Die Luft streichelte warm meinen Bauch.
Und ich sah auch, dass der Bach ein gelbes, sandiges Bett hatte und nicht tief war. Vielleicht einen halben Meter. Genug, um darin zu laufen. Ich beschloss, dass ich durch ihn hindurchgaloppieren wollte.
Meine Schwingen und Klauen verwandelten sich in vier behufte braunrote Beine. Pure Energie durchströmte meinen wolligen Körper und mein Geweih warf zitternde Schatten auf das Wasser vor mir. Ich labte mich an dem Gefühl, mich auf vier Beinen fortbewegen zu können - mühelos, fast schwebend. Das Wasser spritzte auf, eine köstliche Kühle an meinen Fesseln.
Doch nun wollte ich mehr. Ich wollte das Wasser am ganzen Körper spüren. Ich wollte dem glitzernden Sand nahe sein, in dem das Sonnenlicht spielte.
Kopfüber tauchte ich hinein. Meine Beine und mein Geweih lösten sich auf und machten einem schlanken, wendigen Flossenkörper Platz. Ich wirbelte durch das blaue Nass und sprang gestreckt über kleine Stromschnellen.
Noch nie hatte ich mich so rein, so stark und so sorgenfrei gefühlt. Nie hatte mir das pure Dasein mehr Freude bereitet.
Nie war ich so unverwundbar gewesen. Ich -
»Elisabeth! Ellie! Wach - auf!«
Mit einem Stoß drückte ich die Frau von mir weg. Meine Arme fühlten sich fremd an. Und sehr, sehr kalt.
Warum hatte ich Arme? Ich war doch gerade ein Fisch gewesen.
»Elisabeth, was machst du hier?«
Die Frau - meine Mutter war panisch. Aber ich konnte nicht sprechen. Noch nicht. Es war zu schwierig. Selbst das Atmen kostete große Überwindung. Ich musste mich darauf konzentrieren. Ich hatte einen Mund, keine Kiemen. Meine Glieder waren schwer und träge und das Klopfen in meiner rechten Schläfe erinnerte mich schmerzhaft daran, wie verletzlich ich war.
Ich blinzelte. Urplötzlich begann ich mit den Zähnen zu klappern.
»Ich - ich muss ... Ich hab geträumt.«
Ja. Es war ein Traum gewesen. Nur ein Traum. Nur? Er war das Beste, was ich jemals erlebt hatte. Ich wollte zurück. Meine Lider wurden schwer.
»Ellie!«, rief Mama eindringlich. »Bitte bleib wach!«
Trotz meiner Sehnsucht, wieder zurückzukehren - ich war schon auf dem Weg -, drang Mamas Sorge zu mir vor. Sie legte eine warme Decke um meine Schultern und rubbelte meine Oberarme.
»Mama, du tust mir weh«, sagte ich müde. Ich fror wirklich, aber die Decke lastete viel zu schwer auf mir. Ihre Fasern kratzten auf der Haut. Am liebsten hätte ich sogar mein dünnes, kurzes Nachthemd abgestreift, in dem ich hier stand, an der großen Frontscheibe des Wintergartens, gegen die ich eben noch mein Gesicht gepresst hatte. Mama ließ sich nicht beirren. Sie rubbelte weiter. Mein Schlottern und Zittern verebbte. Ich gähnte, bis mein Kiefer knackte.
»Geht es dir gut? Ist alles in Ordnung?«, fragte Mama mich beunruhigt.
Mühsam setzte ich Stück für Stück meine Wirklichkeit zusammen. Ich war weder ein Adler noch ein Hirsch noch eine Forelle. Ich stand in einem dünnen Nachthemd im Wintergarten und hatte eiskalte Füße. Und mein Plan, es in der Schule so zu machen wie in Köln, war bisher gescheitert. Irgendwie klappte das mit dem Beobachten und Nachmachen nicht mehr. Meine Vorahnung hatte sich bestätigt.
»Ja, alles in Ordnung«, sagte ich heiser. Ich räusperte mich.
Es war immer noch schwierig, meine Stimme zu benutzen.
»Du bist doch noch nie geschlafwandelt«, murmelte Mama ratlos.
»Es ist ja nichts passiert«, sagte ich langsam und schluckte. »Es liegt wohl am Mond.«
Dabei war nicht einmal Vollmond. Nein, er nahm noch zu, hatte heute Nacht beinahe sein erstes Halbrund erreicht, doch er hing so tief und märchenhaft groß über den schwarzen Baumwipfeln, dass er den gesamten Wintergarten in silbriges Licht tauchte. War ich nun mondsüchtig? Und was wäre passiert, wenn meine Mutter mich nicht gefunden hätte?
Mama stellte den Wasserkocher an und suchte mir einen ihrer selbst gemischten Tees heraus. Die meisten von ihnen
Weitere Kostenlose Bücher