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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Horrorvision bei­nahe Wirklichkeit geworden. Die vermeintlichen Spinnen hatten sich zwar als altersschwache Weberknechte entpuppt, aber ich mochte mir dennoch nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn ich die Tür nicht hätte öffnen können. Ich ließ die Troddeln los und schaute Papa an.
    »Ja, ich hab es immer noch«, sagte ich. »Tut mir leid. Diesbezüg­lich bin ich eben nicht erwachsen geworden.«
    Papa lachte und strich mir kurz über die Haare.
    »Elisa, du weißt selbst, dass das damit überhaupt nichts zu tun hat. Ängste kennen kein Alter. Und tröste dich: Menschen mit Ängs­ten sind meistens sehr intelligent und hervorragende Analytiker. Das ist ein Vorteil, kein Nachteil. Du musst ihn nur zu nutzen wis­sen.«
    »Mir ist das selten wie ein Vorteil vorgekommen«, erwiderte ich matt. Eigentlich nie, dachte ich. Nicht selten wünschte ich mir, eine gute Portion dumpfer durch die Weltgeschichte zu trampeln.
    »Du wirst dich einleben, Elisa, ich verspreche es dir«, sagte Papa beschwörend und blickte mich mit seinen dunkelblauen, tief lie­genden Augen fest an. »Du musst nur immer ehrlich zu dir sein, dann fügt sich alles andere von selbst.«
    Ehrlich zu dir sein. Erinnere dich. Sei nur du selbst. Ich begann die­se Aufforderungen zu hassen. Das waren doch Binsenweisheiten. Und was hatte es mir in meinem Leben gebracht, ich selbst zu sein? Nichts als Anfeindungen, Spott und Häme.
    Ich schleppte mich müde die Treppe hinauf in mein Zimmer und legte mich wieder ins Bett. Doch als ich mich auf die Seite drehte, um mich zusammenzurollen, geriet ich mit meinem Ellenbogen auf die Fernbedienung der Stereoanlage. Das Radio schaltete sich an.
    »Because of you ...« Kelly Clarkson. Dieser verdammte, viel zu sentimentale Herzschmerztrauersong. Ein Song voller Erinnerun­gen. Blind drückte ich die Aus-Taste, aber es war bereits zu spät. Der Refrain hatte sich in meinem Kopf eingenistet. Ich sah Grischa vor mir, wie er am Schulfest zu genau diesem Song mit seiner Klassen­kameradin getanzt hatte, eng umschlungen und völlig vertieft, und ich hatte danebengesessen und den ganzen Abend darauf gewartet, dass jemand mit mir redete. Doch alles, was ich tat, war Grischa zu­zusehen. Grischa und den anderen. Bis mein Herz vor lauter Sehn­sucht und Kummer ganz wund war.
    Es fühlte sich an, als wäre es erst gestern gewesen. Ja, damals war ich noch ich selbst. Und solche Situationen waren das Ergebnis. Ab­solute Einsamkeit. Schon in der Grundschule hatten mir die hallen­den Treppenhäuser und die Gerüche nach Kreide, nassen Schwäm­men und Putzmitteln, vor allem aber die vielen Seelen um mich herum Angst eingejagt, doch erst im Kölner Gymnasium hatte der wahre Terror begonnen. Denn dort verzieh man mir meine Tränen nicht mehr. Ich war zu alt dafür geworden. Dabei weinte ich gar nicht wegen mir selbst. Ich hatte keinen Grund zu weinen. Jedenfalls keinen der Gründe, die andere zum Weinen brachten. Ich schrieb gute Noten, in allen Fächern, und selbst im Sport rang ich meinem mageren Körper anständige Leistungen ab.
    Nein, ich weinte wegen der anderen, wegen Ungerechtigkeiten, aus Wut. Ich weinte, weil der Hund meines Klassenkameraden an dessen Geburtstag vom Auto totgefahren worden war. Er selbst blieb an diesem schwarzen Morgen zu Hause, aber ich weinte für ihn und konnte kaum mehr aufhören. Ich hatte seinen Schmerz gespürt und selbst als er längst das Grab im Garten besuchen konnte, konnte ich es nicht. Ich weinte, weil ein Mitschüler Krebs hatte und ich vor al­len anderen wusste, dass er sterben würde. Und er starb. Ich weinte, weil sie den zu klein geratenen Sebastian dauernd verprügelten und keiner ihm half. Ich weinte, weil sie meine Sitznachbarin, mit der mich nicht einmal eine Freundschaft verband, mit Eisklumpen ein­seiften, als sie eine Ohrenentzündung hatte und vor Schmerzen wimmerte, und auch, als sie sie wegen ihres Korsetts aufzogen.
    Und ich weinte aus Angst. Aus purer, nackter Angst, die niemand erkannte - am allerwenigsten ich selbst.
    Gleichzeitig widersprach ich den Lehrern, wenn sie ungerecht waren, und beschwerte mich, wenn ich die Notengebung nicht an­gemessen fand. Wenn sie Klassenkameraden grundlos unfair be­handelten. Ich mischte mich in Streitereien ein, die mich nichts an­gingen, und nun war ich die Böse, Harte, Ungerechte. Ich war die Böse, aber ich war auch der Trauerkloß, die Streberin, die »Heule«.
    »Heule, Heule«, riefen sie im Chor, wenn sich wieder ein

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