Splitterherz
Lesestoff für ein kleines Mädchen. Jetzt aber war ich hier, um herauszufinden, ob ich den Verstand verlor oder nicht. Ich griff mir wahllos einige Nachschlagewerke aus den Regalen, kuschelte mich auf dem grünen Ledersofa in eine flauschige Decke und durchforstete die Inhaltsverzeichnisse nach »Wahnvorstellungen«, »Halluzinationen« und »Stimmen hören«.
Drei lange, anstrengende Stunden später musste ich feststellen, dass ich keinen Schritt weitergekommen war. Würde ich Drogen nehmen oder hätte ich eine Trinkerkarriere hinter mir, wäre die Lösung nach wenigen Minuten gefunden gewesen.
Ich hatte bisher aber nicht einmal an einer Zigarette gezogen, geschweige denn an einem Joint, und war noch nie betrunken gewesen - ein wohlbehütetes Geheimnis vor Jenny und Nicole, denen ich einen täuschend echten Schwips Vorspielen konnte. Gleichzeitig trug ich die Verantwortung dafür, dass in unserer Stammkneipe und unserem Lieblingsclub etliche Pflanzen eines kläglichen Äthanoltodes starben, denn ich hatte all die Biere, Longdrinks und Schnäpse klammheimlich in die Blumenkübel geschüttet.
Nein, Papas Bücher hatten mir nicht geholfen. So kritisch ich meine beiden Stimmenerlebnisse auch betrachtete - sie passten nicht zu dem, was ich hier las.
»Mist«, flüsterte ich und vergrub die Hände in meinen Haaren, die sich in der Landluft langsam wieder zu wellen begannen. Mein Glätteisen hatte ich bisher nicht einmal ausgepackt.
»Was quält dich denn, Elisabeth?«
»Oh Gott, Papa!« Ich versuchte hektisch, die Kuscheldecke über die gelesenen Bücher zu werfen. »Was machst du hier?«
»Ich hab ein paar Akten vergessen«, sagte er lächelnd und ging mit federnden Schritten zu seinem Schreibtisch. »Du kannst die Decke ruhig wieder herunternehmen; ich weiß, dass du seit Jahren mein Büro mitbenutzt.«
Gut. Er war also nicht böse. Aber was sollte ich ihm antworten? Ich konnte ihm nicht erzählen, was wirklich passiert war - ich wusste ja nicht einmal, ob es »wirklich« gewesen war. Vielleicht hatte ich eine Krankheit, die so selten war, dass sie in keinem Buch vorkam oder noch gar nicht erforscht worden war?
Mit beneidenswerter Leichtigkeit griff er sich die schweren Akten und setzte sich neben mich auf das Sofa. Knarrend gab das Leder unter seinem Gewicht nach.
»Ach, Papa«, seufzte ich. »Hier ist alles so anders - und ich frage mich ...« »Was fragst du dich?«
»Ob man deshalb irgendwie selbst anders wird.« Sorry, Papa, aber mehr kann ich dir nicht sagen, entschuldigte ich mich stumm.
»Natürlich ist man anders als in der Stadt. Es macht einen Unterschied, ob man im Gebirge lebt, am Meer, in der Stadt oder auf dem Land. Es ist viel ruhiger hier. Die Sinne schärfen sich. Und du hattest schon immer sehr feine Sinne. Man hört mehr und sieht mehr.«
Oh ja, man hört mehr. Das kannst du laut sagen, Papa, spottete ich in Gedanken.
»Hast du denn noch ...« Papa unterbrach sich räuspernd und schien zu überlegen, ob es klug war weiterzureden oder nicht.
»Was?«, fragte ich ihn.
»Ich habe gesehen, dass du den Wein an deinen Fenstern ein wenig weggeschnitten hast.«
Jetzt räusperte ich mich. Ich ahnte, worauf er anspielte.
»Darf ich das denn nicht?«, entgegnete ich und spielte mit den Troddeln der Kuscheldecke.
»Es verfolgt dich also immer noch, dein - Szenario.« Oh, wie vornehm ausgedrückt. Papa war in seinen versierten, plaudernden Therapiegesprächston verfallen. Ja, das konnte er gut. Plötzlich hatte man das Gefühl, ihm alles anvertrauen zu wollen. Alles und noch mehr.
Doch irgendwie war es mir heute unangenehm. Wir hatten seit Jahren nicht mehr darüber geredet. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich ihm eines Herbstabends unter Tränen jene Horrorvision geschildert hatte, die mich immer wieder heimsuchte, vor allem nachts, wenn ich nicht einschlafen konnte: die Vorstellung, dass eine Spinne gezielt auf meinen Körper krabbelte, unter meine Kleider und in meine Haare, auf meine nackte Haut, und niemand es schaffte, sie von mir zu lösen. Ich selbst schon gar nicht. Dass ich ohnmächtig wurde vor lauter Ekel und Abscheu. Ich hatte damals von ihm wissen wollen, ob das denn möglich sei - vor Ekel das Bewusstsein zu verlieren. Und zu meinem Schrecken hatte er geantwortet: »Ja. Ja, das ist durchaus möglich. Aber es ist ein sinnvoller Trick deines Körpers, um dich zu schützen und dich vergessen zu lassen.« Im Notausgang der Turnhalle war die
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