Splitterherz
neuer Sturzbach aus meinen Augen löste. Außerdem trug ich die falschen Klamotten, hatte die falsche Frisur und hörte die falsche Musik. Ich empfand mich als dürr, verschroben und hässlich, obwohl meine Eltern nicht müde wurden, das Gegenteil zu behaupten.
Und irgendwann war ein Punkt erreicht, an dem die Angst übermächtig wurde. Jeden Morgen vor der Schule war mir übel, weil ich fürchtete, wieder weinen zu müssen. Ich konnte nichts mehr essen, bis die Schule vorüber war, und die Ferien wurden zu heiligen Rettungsinseln, in denen ich nur schlief, las und aß. Und davon träumte, dass Grischa mich irgendwann wahrnehmen würde.
Bis ich wieder einmal einen Beschluss fasste - den Beschluss, mich zu ändern. Erstes Ziel: nicht mehr weinen. Manchmal erstickte ich fast an dem Kloß in meinem Hals oder musste unter einem Vorwand den Raum verlassen, aber ich weinte nicht mehr. Meine Devise: nicht mehr zu viel fühlen. Nicht mehr über andere nachsinnen.
Nicht mehr ihre Ängste und Schmerzen erspüren. Das war das Schwerste.
Aber dann war ich so weit, dass ich aktiv werden konnte. Ich beobachtete wie bei einem Experiment und lernte von den anderen. Ich suchte mir Nicole und Jenny als Vertraute und Vorbilder aus, weil sie sehr beliebt waren, aber gleichzeitig einigermaßen sympathisch. Sie waren mir nicht ganz so fremd wie die anderen.
Ich fand heraus, welche Klamotten sic mochten und welche Musik sie hörten, und ich suchte mir für mich etwas, was dem nicht aufs Haar glich, sondern ähnelte. Es funktionierte - sie nahmen mich wahr. Und wir wurden Freundinnen. Die anderen begannen, mich mit wohlgesinnteren Augen zu betrachten. Ich war nicht mehr der Freak, sondern die Freundin der zwei beliebtesten Mädchen der Klasse. Also konnte ich so verkehrt nicht sein. So einfach war das.
Es war erleichternd. Ich war endlich dabei. Ich wurde zu Partys eingeladen und musste im Landschulheim nicht mehr das schäbigste Bett im unbeliebtesten Zimmer nehmen. Ich schrieb absichtlich in regelmäßigen Abständen eine Drei oder eine Vier, um nicht mehr als Streberin dazustehen (ein Akt, der mir körperlich wehtat), und vergaß ebenso absichtlich hin und wieder die Hausaufgaben, sodass ich jemanden ums Abschreiben bitten konnte. Ich glättete meine wirren Haare und machte mithilfe von diversen Frauenzeitschriften einen selbst organisierten Crashkurs in Kosmetik.
Das Einzige, was nicht geklappt hatte, war, Grischa zu vergessen. Mich nicht mehr nach einem Beschützer zu sehnen, der mich erlösen würde.
»Oh Mann, ich war gut«, stöhnte ich und wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln. War ich denn auch zufrieden gewesen? Zufrieden - ja. Aber glücklich? Glücklicher als jetzt? Ich wusste es nicht.
Und was sollte ich davon haben, mich zu erinnern? Ich selbst sein, das hatte nie richtig funktioniert und würde es auch jetzt nicht. Das Einzige, was ich tun konnte, war, neue Regeln zu lernen. Was spielte man hier? Was spielte Maike? Ich konnte bei Maike kein Spiel erkennen. Maike war einfach Maike. Und Benni? Lola? Nadine? Würde ich wieder so auffallen wie damals in der Schule, wenn ich mit ihnen redete - und war es nicht schon passiert?
Und gab es Regeln, die Colin befolgte? Ich fand keine Antworten. Doch meine Enttäuschung über Jennys und Nicoles Besuch verblasste allmählich. Ich hatte sie benutzt - nicht mehr und nicht weniger. Ich mochte sie immer noch, aber irgendetwas passte da nicht mehr.
Ich schlüpfte aus den Federn, zog mir Jeans und Shirt über, ging nach draußen und begutachtete in der warmen Frühlingssonne Mainas Gartenarbeiten. An einigen Stellen kämpfte sich schon frisches Grün durch die Erde. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf und strich mit den Händen durch das warme Gras unter meinen Füßen.
Ich würde wieder von vorne anfangen müssen. Es war mühsam, aber es war der einzige Weg. Morgen würde ich die nächste Beobachtungsphase einleiten. Morgen in der Schule. Die Operation Landleben konnte beginnen.
Doch ich wurde den ganzen Tag über das unbehagliche Gefühl nicht los, dass es diesmal nicht gelingen würde.
Frühsommer
Sturzflug
Ich stand am Rande des Abgrunds und schaute in die schwindelerregende Tiefe. Grün, nichts als Grün, Bäume und Farne und Gräser, ein Meer aus Grün. Doch unten im Tal schlängelte sich leuchtend ein blauer Bach durch das Dickicht. Dort wollte ich hin. Er lockte mich.
Also streckte ich meine Arme aus und
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