Splitterherz
Nest aus Moos zu kuscheln und zu dösen? Vielleicht sollte ich nachts doch lieber schlafen, anstatt Gedanken hin und her zu wälzen.
Gut, ich musste also auf die andere Seite gelangen. Der verfallene Brückenbogen endete genau über der Bachmitte. Eine andere Brücke war weit und breit nicht zu sehen. Kurzentschlossen krempelte ich die Hosenbeine hoch und watete mit zusammengebissenen Zähnen durch die Strömung. Der Bach war nicht tief, doch es lauerten scharfkantige, lose Steine in seinem Bett, die mich gefährlich straucheln ließen. Wie eine Trapezkünstlerin breitete ich meine nassen Arme aus, um nicht zu stürzen. Unversehrt, aber mit vor Kälte schmerzenden Waden erreichte ich das andere Ufer.
»Jawohl!«, rief ich triumphierend. Es waren Hufspuren. Und zwar gigantisch große Hufspuren. Das konnten, nein, das mussten die Hufe von Louis gewesen sein. Mit Feuereifer, wenn auch nach wie vor mit trägen Lidern und bleierner Schwere in den Muskeln, verfolgte ich die Hufspuren - über weichen Waldboden, eine Wiese, deren Gräser und Halme mir bis zur Hüfte reichten, einen schlammigen Pfad.
Viel zu spät wurde mir klar, dass ich bei Dunkelheit niemals wieder zurückfinden würde. Ich hatte permanent auf den Boden gestarrt und das Licht der Sonne verfärbte sich bereits feuerrot. Wie eine glühende Kugel stand sie hinter den Wipfeln der Bäume. Ich blickte direkt hinein und konnte dem Impuls, meine Augen zu schließen, nicht widerstehen. Schon drifteten meine Gedanken ab, ins wohltuend kühle schwarze Nichts.
»Nein!«, rief ich aus trockener Kehle und schob meine Lider mit den Fingerspitzen nach oben. Blinzelnd sah ich mich um. Wo war ich? Mein Blick blieb an einer mit Laub bedeckten Kuhle zwischen zwei Bäumen hängen. Genau die richtige Größe, um sich hineinzuschmiegen. Zu liegen. Keine Muskelanstrengung mehr. Nicht mehr denken.
»Nein«, rief ich ein weiteres Mal, doch es war nur noch ein Flüstern. Ich schloss meine Finger fest um einen knorrigen Ast, der neben mir über den Weg ragte. Der leichte Schmerz, den seine zerfurchte Rinde in meiner Handfläche hinterließ, konnte die übermächtige Trägheit kurz bezwingen. Ich begann zu laufen und vor Anstrengung rannen mir die Tränen die Wangen hinunter. Immer wieder schlug ich mir mit den Fingernägeln auf die Unterarme, um wach zu bleiben und nicht jedes Stolpern als Einladung zum Fallen, zum Liegenbleiben zu nutzen.
Es war, als ob ich gegen eine meterdicke Wand anlief, die sich an mich presste und mich zum Kippen brachte, je mehr ich mich bemühte vorwärtszukommen. Ich fragte mich, ob ich das alles hier tatsächlich erlebte - oder ob ich schlief und bald in einen Albtraum geraten würde, der ewiger schien als mein gesamtes bisheriges Leben. Ich wollte gerade aufgeben und mich endlich auf den Waldboden fallen lassen, als es um mich herum heller wurde. Mit Gewalt trieb ich mich vorwärts, schwitzend und fluchend und krampfhaft gähnend, bis das Brückchen und der verfallene Stall vor mir auftauchten.
Die letzten Meter kroch ich mit hängendem Kopf durch den Staub und wälzte mich über die morsche Schwelle des Stalles hinein ins Dunkle, in die erste, leere Box auf mein Bett aus Stroh. Ich musste mich nicht umsehen, um zu wissen, dass alles umsonst gewesen war. Colin war nicht hier. Louis war nicht hier.
Die Enttäuschung raubte mir die letzte Kraft. Noch während ich meine Beine an mich zog und mit den Unterarmen umfasste, war ich eingeschlafen.
»Ich dachte, du wolltest Louis kennenlernen.«
Jetzt war sie echt. Die Stimme. Verdammt, sie war echt. Ich versuchte, mich gleichzeitig auf die Beine und in die Senkrechte zu bringen, meine Haare zurechtzustreichen, das Stroh von meinen Hosenbeinen zu klopfen und so auszusehen, als sei es das Normalste auf der Welt, sein verspätetes Nachmittagsschläfchen in einer fremden Box in einem fremden Stall zu halten. Unter gehörigen Koordinationsschwierigkeiten rutschte ich auf alle viere und atmete beduselt einen Halm Stroh ein. Ich keuchte und hustete, bis mir Tränen in die Augen stiegen.
»Oder möchtest du noch ein bisschen - schlafen?«, fragte Colin mit einem undefinierbaren Lächeln in den Mundwinkeln.
Ich fand mein Beinahe-Ersticken im Vierfüßlerstand schon entwürdigend genug. Noch entwürdigender aber war es wohl, in aller Seelenruhe dabei beobachtet zu werden. Schamlos musterte er die Tränen, an denen ich mich noch einmal verschluckte. Meine Wangen glühten und ich
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