Splitterherz
Hoffnung.
Colin lachte tonlos. Dann wurde er so ernst, dass die Angst von vorhin wieder von mir Besitz ergriff. Er zerwühlte mit beiden Händen seine Haare und streifte dabei versehentlich den obersten Ohrring. Der Ring kippte leicht zur Seite. Staunend erkannte ich, dass sein Ohr spitz zulief. Blitzschnell schob er den Ring wieder zurecht.
»Das hast du nicht gesehen«, drang es in meinen Kopf.
Ich stemmte mich mit aller Macht dagegen. Doch, habe ich, gab ich in Gedanken hartnäckig zurück, obwohl die Erschöpfung mich zu verschlingen drohte und das Bild des spitz zulaufenden Ohrs in meinem Kopf bereits ausradiert wurde.
Zornig stand Colin auf. Mit der geballten Faust schlug er gegen einen Baum und lehnte seine weiße Stirn an die Rinde. Dann löste sich seine Faust. Als bäte er um Verzeihung, strich er mit der flachen Hand über den Stamm.
»Was tu ich hier nur?«, murmelte er.
»Dinge erzählen, die ich längst hätte wissen sollen. Was rauben sie?«, bohrte ich weiter. »Ist es vielleicht - Blut? Sind sie so etwas wie ...«
»Ach, ihr mit euren ewigen Vampiren«, brach es aus Colin heraus. »Als gäbe es nichts anderes. Immer diese Verherrlichung der Blutsaugerei. Hast du dir mal überlegt, wie unlogisch das Ganze ist? Würde ein bisschen auffallen, wenn auch nur ein einziger Vampir in einer Großstadt Nacht für Nacht Menschen anzapfen würde, die anschließend natürlich sofort dahinsiechen. Dann hätten wir kein Problem mehr mit der Bevölkerungsexplosion, nicht wahr? Außerdem gibt es Wichtigeres als - Blut«, schloss er verächtlich.
Ich sah Dracula spontan in einem anderen Licht. Colin war zweifellos wütend - und er versuchte, mit seiner Wut von dem eigentlichen Thema abzulenken. Fast wäre es ihm gelungen.
»Dann sag es mir, verdammt noch mal. Was ist wichtiger als Blut? Was rauben sie?«, zischte ich ihn an. Es entstand eine kleine, kaum erträgliche Pause, in der zwei Mächte miteinander zu kämpfen schienen. Auf Leben und Tod.
»Träume«, sagte er schließlich bitter, das Gesicht weiterhin von mir abgewandt. »Sie rauben Träume. Schöne, glückliche Träume. Das, was Menschen am Leben hält.«
Es klang absurd. Geradezu lächerlich. Und doch wusste ich, dass es stimmte. Nein, ich fühlte es. Colin log nicht. Und um die Feinheiten konnte ich mich jetzt nicht kümmern. Ich musste wissen, ob ich jemals wieder nach Hause zurückkehren konnte. Zu meinem Vater. Meine Gedanken galten meinem Vater, den ich doch eigentlich liebte.
Fieberhaft dachte ich nach und schob meine Gefühle für einen Moment zur Seite. Papa war also von etwas sehr Bösem angefallen worden, das auf seine Träume aus war und ihn zu seinesgleichen machen wollte. Und somit war er - zumindest zur Hälfte - wohl auch jemand, der Träume brauchte. Aber waren Mama und ich dann nicht gefährdet? Bestand nicht das Risiko, dass er uns - anfiel? Unwillkürlich griff ich mir an die Brust und keuchte auf.
»Nein, Ellie, ich glaube nicht, dass du in Gefahr bist. Vielleicht deine Mutter, aber du nicht. Ich habe den Eindruck, er ist dir gegenüber immun.«
Diese Antwort war nur bedingt beruhigend. Ob Mama überhaupt davon wusste? Schlief sie deshalb im Nähzimmer, wenn er Migräne hatte? Und wann war es geschehen? Vor meiner Geburt? War ich dann nicht ein - ein Viertelblut?
»Wer einmal befallen und zur Bluttaufe gezwungen wurde - was übrigens eher selten geschieht -, kann sich nicht mehr fortpflanzen«, las Colin erneut meine Gedanken. »Nicht auf menschliche Art und Weise. Das gilt auch für Halbblüter.«
»Aber er lebt doch, oder? Ich meine - er kann sterben?«
So viele Fragen brannten mir auf der Seele und ich wusste nicht, wie lange Colin noch bereit war, mir zu antworten. Ich hatte das Gefühl, dass er sich von mir entfernte. Vor allem aber wusste ich nicht, wie lange ich es noch schaffen würde, wach zu bleiben. Meine Lider lasteten wie Steine auf meinen Augen.
»Ja. Kann er. Aber es ist möglich, dass er sehr alt wird und trotzdem nie auf die verfallende Weise altert wie andere Menschen. Und selten krank wird. Aber er wird sterben, irgendwann.«
Kurz überlegte ich, ob Johannes Heesters vielleicht auch ein Halbblut war, und unterdrückte den Drang, irr loszulachen. Beruhig dich, Elisabeth, redete ich mir still zu. Stell deine Fragen. Schnell.
»Du hast nach seinem Namen gefragt - warum? Kennst du ihn?«
Colin seufzte. Es dauerte, bis er antwortete.
»Nicht persönlich. Aber ich habe von ihm
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