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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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hielt die Luft an und blätterte hastig weiter.
    »4. April 1991. Ich müsste längst tot sein. Ich habe seit drei Tagen nichts gegessen und nichts getrunken. Meine Haut ist kalt, aber das Thermometer zeigt nach wie vor 42 Grad. Ich werde mir jetzt eine In­fusion legen. Ich muss mich ernähren. Sollten dies meine letzten Zeilen sein, dann möchte ich meiner Nachwelt sagen: Es war kein Mensch. Und auch kein Tier. Es krallte sich an mir fest und wollte mich zu sei­nesgleichen machen. Das ist die Wahrheit. Und sollte ich überleben, werde ich herausfinden, was es ist.
    Mia, ich liebe dich. Paul, ich liebe dich. Und dich, kleines ungebore­nes Menschlein, dich liebe ich auch.«
    Ich ließ die Kladde fallen. Keuchend holte ich Luft. Ich trat ans Fenster, riss es auf und blickte in die Nacht hinaus. Es war also wahr. Nicht Colin hatte gelogen. Mein Vater hatte gelogen. Er war angefal­len worden. Von einem - einem Dämon? In der Karibik? Vor meiner Geburt?
    Zitternd setzte ich mich zurück auf den Boden und nahm den Kalender wieder in die Hand. Bei dem nächsten Eintrag hatte sich Papas Handschrift beruhigt. Zwei schaurige Fotos klebten unter seinen kurzen, sachlichen Zeilen.
    »6. April 1991. Kann wieder essen und trinken. Fast nichts schmeckt mehr, aber ich kann mich damit ernähren. Fieber nur noch 39,5 Grad. Wunden verheilen langsam. Habe Kapitän gesagt, dass ich von einem Affen gebissen wurde und mich auskuriere. Nehmen Kurs über den Atlantik.
    PS 21 Uhr. Ich höre die Wellen gegen den Schiffsrumpf schlagen. Jede einzelne. Und ich höre die Delfine singen. Sie begleiten uns.«
    Die Fotos zeigten unscharf Papas nackten Rücken. Offensichtlich hatte er sie mit Selbstauslöser geschossen. Von den Schultern bis hinunter zum Steiß zogen sich tiefe, rot verkrustete Wunden. Ich konnte jeweils fünf blutige Striemen erkennen. Ganz oben, wo das Vieh sich festgekrallt haben musste, waren sie am breitesten. Des­halb waren wir also nie zusammen baden gegangen. Von wegen Papa konnte nicht schwimmen. Ich hatte es ihm nie geglaubt. Und ich hatte recht gehabt. Ich blätterte weiter.
    »10. April 1991. Hämmernde Kopfschmerzen. Werden nur besser, wenn ich das Bullauge verdunkle und unter Deck bleibe. Ich glaube, es ist Hunger. Aber auf was?
    23 Uhr: Habe ein halb rohes Steak gegessen. Jetzt ist es besser. Ich konnte das warme Fell des Tieres riechen, als der Blutsaft meinen Gaumen hinunterrann. Das war wie Medizin. Morgen probiere ich Sushi.«
    »Bah, Papa, das ist ja widerlich«, wisperte ich und las weiter.
    »20. April 1991. Noch zwei Tage bis Hamburg. Schwere See. Eine ältere Dame war bei mir und bat um Medikamente gegen Übelkeit. Aber sie war nicht seekrank. Sie hatte nur Angst. Ich spürte es, bevor sie in meiner Praxiskabine war. Früher hätte ich ihr Pillen gegeben. Jetzt redete ich so lange mit ihr, bis sie vergaß, dass sie Angst hatte. Und die Übelkeit war vorbei. Danach versuchte sie, mich zu verführen.
    PS Die Narben auf meinem Rücken sehen einfach scheußlich aus.«
    Dann kam der vorerst letzte Eintrag.
    »Kurz vor Hamburg. In wenigen Stunden sehe ich meine Frau und meinen Sohn wieder. Gott, Mia, wie soll ich dir nur erklären, was mit mir geschehen ist? Was soll ich dir sagen? Und wird es unserem Baby schaden?«
    »Ja, das wüsste ich auch gerne«, raunte ich und blätterte den Rest des Büchleins durch. Alles unbeschrieben - bis auf einen kleinen Eintrag Monate später.
    »22. September 1991. Elisabeth ist da. Endlich! Plötzlich hatte sie es sehr eilig. Und: Sie ist gesund. Dem Himmel sei Dank, sie ist gesund.«
    Obwohl ich immer noch wütend auf Papas Lügen war, sammelten sich Tränen in meinen Augen. Mit verschleiertem Blick griff ich nach dem oberen der beiden Fotoalben, die sich noch in der Kiste befanden. Auf beiden prangten drei Lettern: LLL. Und als ich das Album aufschlug, wurde mir plötzlich klar, was sie bedeuteten. Leos letztes Leben.
    Das Fotoalbum war voller Aufnahmen aus den Jahren vor - ja, vor diesem »Zwischenfall«, wie ich es vorläufig nennen wollte. An die Begriffe, die Colin verwendet hatte, mochte ich nicht einmal denken. Ich musste immer wieder aufseufzen, als ich die Bilder be­trachtete. Ich hatte Papa zeit meines Lebens so gekannt, wie er jetzt war. Groß, breitschultrig und auffallend muskulös, obwohl er nie Sport machte. Ja, er war ein wilder Kerl, wie er im Buche stand - wären da nicht seine Migräneanfälle, die ihn manchmal tagelang ans Bett fesselten. »Migräne«,

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