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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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schnaufte ich spöttisch und fuhr mit den Fingerspitzen über die schlanke Statur des Mannes, der mir aus den Alben entgegenschaute - groß war er gewesen, sicher, aber viel schmaler, mit dünnerem Haar und sanfteren Augen. Sie lagen tief in ihren Höhlen wie jetzt, doch sie blickten mir eher verträumt und nicht so intensiv und brennend entgegen. Er hatte sich wahrhaftig verändert. Gut, Menschen veränderten sich mit den Jahren - aber nicht so wie mein Vater. Das war ungewöhnlich. Vielleicht sogar unnatürlich. Trotzdem hatte ich mich nie vor ihm gefürchtet.
    In den schweren Aktenordner warf ich nur ein paar flüchtige Bli­cke. Es waren Jobabsagen. »Sehr geehrter Herr Fürchtegott, wir be­dauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Sie trotz Ihrer hervor­ragenden Referenzen nicht in unser Praxisteam aufnehmen können.
    Die Behandlung von psychisch kranken Menschen verlangt es, dass wir zu jeder Tageszeit einsatzfähig sind. Deshalb können wir auf Ihre Sonnenlichtallergie leider keine Rücksicht nehmen.« Aus sämt­lichen Schreiben konnte ich herauslesen, dass Papa in seinen Be­werbungen darum gebeten hatte, seine Patientengespräche auf die Abend- und Nachtstunden verlegen zu dürfen. Es war nur eine Zu­sage dabei - für die Praxis in Kölns City. Seinem dortigen Partner war es willkommen, jemanden an der Seite zu haben, der viel be­schäftigte Großstadtyuppies mit seelischen Schieflagen nach deren Arbeitszeit aufpäppeln würde. Gerne auch nachts. Deshalb also der Umzug nach Köln. Wir hatten es tun müssen.
    Ich hatte genug gesehen.
    »Netter Versuch, Papa, aber ziemlich erfolglos«, murmelte ich, nahm die Kladde in die Hand und rannte die Treppe hinunter. Bei jeder Stufe wurde ich ein bisschen zorniger. Ohne anzuklopfen, stürmte ich ins Schlafzimmer. Papa saß aufrecht, angezogen und hellwach im Bett, die Haare zerrupft, den Blick nach innen. Mama war nicht bei ihm.
    »Und wann hattest du vor, mir davon zu erzählen?«, fauchte ich und schleuderte ihm die Kladde gegen die Brust. Papa zuckte nicht einmal. Sie prallte ab und rutschte in seinen Schoß. Bedächtig nahm er sie und legte sie neben sich aufs Leintuch.
    Seine Mundwinkel kräuselten sich kurz. Ein nahender Wutanfall oder die Andeutung eines Lächelns? Ich kannte ihn nicht mehr. Wen hatte ich da vor mir? Einen Menschen oder ein Ungeheuer? Für eine Sekunde wollte ich aufstehen, aus dem Zimmer laufen und so tun, als sei die vergangene Nacht nur ein böser Traum gewesen. Ich woll­te zurück in meine sichere, geborgene Kindheit - na, in die schönen Zeiten, die in unseren Urlauben und Ferien.
    Ferien an unwirtlichen, düsteren Orten, wo fast nie die Sonne schien und die Polarnacht uns in ihrem frostigen Griff hielt.  Win­terferien in Alaska, Norwegen und Kanada, stets in der absoluten Einsamkeit, die nächsten Nachbarn kilometerweit entfernt. Ich hat­te es abenteuerlich gefunden. Es war eine Flucht gewesen, eine Flucht vor dem Licht und den Menschen.
    Nein. Es gab kein Zurück in meine Kindheit. Jetzt verstand ich so vieles, was mir vorher höchstens ein wenig sonderbar vorgekom­men war. Papa blickte mich abwartend an.
    »Das hätte ich mir ja irgendwie denken können«, sagte er schließ­lich resigniert. »Halbblut. Der Film. So, so.«
    Ich schlug die Augen nieder, konnte aber nicht verhindern, dass sich ein flüchtiges Grinsen auf mein Gesicht stahl. Doch dann dach­te ich wieder an das, was Colin mir erzählt hatte, und plötzlich sprudelten die Worte überstürzt und unzusammenhängend aus mir heraus.
    »Ich weiß, dass du ein Halbblut bist; ein halber - na, jedenfalls, du bist angefallen worden und konntest dich wehren und du machst mehr als nur deine Arbeit in der Klinik ... du hast besondere Fähig­keiten und ... eigentlich weiß ich gar nichts«, erkannte ich und Papa lachte gelinde amüsiert auf. Stimmt. Die wirklich wichtigen Sachen wusste ich nicht. Warum zum Teufel hatte ich Colin nicht mehr Fragen gestellt? Warum hatte ich klein beigegeben? Ich hätte die ganze Nacht mit ihm reden sollen.
    »Komm mit«, sagte er knapp und ging mir voraus ins Büro. Dort steckte er die Kladde in eine Schublade und schloss sie zweimal ab. Dann sah er mich fest an.
    »Bevor ich dir etwas erzähle, Elisa, musst du mir einen Schwur leisten - und das meine ich ernst.«
    »Einverstanden«, sagte ich. Meine Stimme brach vor Aufregung.
    »Schwöre mir, dass du niemandem außerhalb unserer Familie - niemandem, Elisa! - von unserem Gespräch erzählst.

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