Splitterherz
siebzehn! Und meine Eltern hatten das sogar unterstützt.
Papas Blick verdunkelte sich. »Ich hatte versucht, ihm alles zu erklären, als er sechzehn war und mir vorhielt, ich würde Mama immer wieder wegschicken, um meinem Vergnügen nachzugehen. Er dachte, ich hätte eine Affäre. Und dann - nun ja.« Papa brach ab und zögerte für einen Moment. »Seine erste Freundin, Lilly. Sie hatte sich in mich verliebt. Das passiert seitdem irgendwie - hm. Oft. Sehr oft, um genau zu sein.« Er räusperte sich verlegen. Ich dachte an die Notizen aus der Kladde. Die seekranke alte Frau auf dem Schiff. Oh mein Gott. Mein Vater, der Frauenschwarm. Wie grauenvoll.
»Spätestens da musste ich ihm erklären, was wirklich der Grund war. Er wollte es nicht glauben. Er hat es bis heute nicht akzeptiert. Er denkt, dass ich lüge, dass ich Lillys Gefühle angefacht habe. Und dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. Ich kann ihm das nicht verübeln.«
»Ich auch nicht«, antwortete ich bitter. Meine unterschwellige Hoffnung, Paul würde irgendwann zurückkommen und wieder zusammen mit uns leben, war endgültig verflogen.
»Und du, was wirst du tun? Auch ausziehen?«, fragte Papa mich ernst.
»Ich glaube dir das mit dem Biss. Ich muss es gar nicht - ich weiß einfach, dass es stimmt. Das ist ja das Schlimme. Ich habe keine Chance, es dir nicht zu glauben.«
Wir schwiegen. Das war also die Wahrheit. Mein Vater war ein Halbblut. Colin hatte nicht gelogen. Doch noch verbannte ich die Gedanken an Colin. Zuerst musste ich einige andere Dinge klären.
»Was denkst du, was es genau war - dieses Wesen in St. Lucia? Gibt es mehrere von ihnen?«
Papa antwortete nicht sofort. Er öffnete das Fenster und schaute eine Weile hinaus auf die dunkle Straße. Das Zirpen der Grillen schwirrte lieblich und süß durch die milde Sommerluft, doch meine Hände waren eiskalt. Noch ein paar Minuten und ich würde vor innerer Spannung anfangen, mit den Zähnen zu klappern. Außerdem bekam ich Kopfschmerzen.
Papa drehte sich um und lehnte sich lässig an die Fensterbank. Seine entspannte Haltung täuschte. Ich sah, dass er nach den richtigen Worten suchte. Er fand sie nicht. Vielleicht wagte er auch nicht auszusprechen, was er dachte. Stattdessen ging er zu seinem Schrank, klappte die linke Tür auf und zog einen gerahmten Druck aus dem obersten Fach. Er reichte mir das Gemälde kommentarlos.
Ich kannte es aus der Schule. Wir hatten es vergangenes Jahr im Kunstunterricht besprochen. Der Nachtmahr von Füssli. Eine Frau, die in verdrehter Haltung rücklings auf dem Bett liegt, wie dahingerafft, und auf ihrer Brust hockt triumphierend ein pelziges Wesen mit spitzen Ohren und maskenhaftem Gesicht. Am unheimlichsten aber hatte ich das Pferd mit den toten, blinden Augen gefunden, das im Hintergrund in die nachtdunkle Szenerie bricht, die schwarzen Nüstern gebläht und die Mähne sturmzerzaust.
»Nachtmahre«, flüsterte ich. Ich schaute Papa prüfend an. Mit Verlaub, er war eindeutig hübscher als dieses affenartige Älbchen auf der Brust der träumenden Frau.
»Ja. Nenn sie, wie du willst. Nachtmahr, Aufhocker, Incubus, Dunkelelf, Schattenvolk, Traumjäger. Sie leben auf der ganzen Welt verteilt. Der Glaube an sie ist uralt und es gibt ihn in fast jeder Kultur. Es wundert mich nicht. Wir wissen ja bis heute nicht, wozu die Träume der Menschen gut sind. Was sie bewirken. Die Wissenschaftler tappen immer noch im Dunkeln.«
Deshalb ließ Papa also von seinen Patienten Traumtagebücher führen. Seine Sachlichkeit war auf den ersten Blick beruhigend, aber bei genauerer Betrachtung alarmierend. Papa war kein Idiot. Wenn er sagte, dass es diese Wesen gab, dann tat er das nicht einfach so. Dann hatte er jahrelang geforscht. Es gab sie wirklich.
»Was sie genau sind und wie sie dazu geworden sind - darüber habe ich unterschiedliche Theorien«, fuhr er gedankenverloren fort. »Ich weiß nur, dass es Menschen gibt, die angefallen wurden, manchmal über eine längere Zeit immer wieder, und seitdem verändert sind, antriebslos, schwach und depressiv. Die sogar für geisteskrank gehalten werden.«
»Merkt man es denn, wenn man von einem - Nachtmahr angefallen wird?«, fragte ich unbehaglich. Der Gedanke, dass es möglicherweise bereits auch bei mir geschehen war und ich es nicht einmal geahnt hatte, war kaum zu ertragen.
Papa schüttelte den Kopf. »Nein, meistens nicht. Ich hatte einige wenige sehr sensible Patienten, die etwas
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