Splitterndes Glas - Kriminalroman
sich, zu welcher Sorte Irene Bast gehören würde.
»Hier«, sagte Natalie und nahm ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Tasche. »Das wollte ich dir doch zeigen.«
Es war die Ankündigung von Irenes Ausstellung, in der sogar ihre wilde Enkelin, der Filmstar, erwähnt wurde. Über dem Artikel war ein Brustbild von Natalie abgedruckt, das bei irgendeiner Premiere gemacht worden war, und darunter eines der neuen Bilder von Irene.
Die Abbildung war klein und die Konturen waren unscharf, aber dennoch wurde deutlich, dass sich Irenes Vorstellung von häuslichen Interieurs grundlegend gewandelt hatte. Eine junge Frau, deren lange schwarze Haare über die eine Schulter geschlungen waren, saß nackt mit gespreizten Beinen auf einem weißen Küchenstuhl. Mehr ein Mädchen als eine Frau. Auf dem Tisch hinter ihr keine Nelken, sondern Gegenstände, die am ehesten als Folterinstrumente beschrieben werden konnten, und im Hintergrund, |395| neben einer geöffneten Tür stand ein wenig versteckt im Schatten eine Figur, die halb Mann, halb Bär war.
Beunruhigt, mit einem flauen Gefühl im Magen, faltete Lesley das Glanzpapier wieder zusammen und gab es Natalie zurück, die es ohne Kommentar entgegennahm.
Eine neue Richtung, zweifellos.
Südlich von Kirkwell fuhren sie im Taxi über den schmalen Damm zwischen den riesigen Seebarrieren, die Churchill hatte bauen lassen, um die Flotte in ihrem Stützpunkt Scapa Flow zu schützen. Nachdem sie die Gipfel des Hochlands überflogen hatten, wurde das Land zu Lesleys Überraschung flach. Und der Himmel, der sowohl dem Blau des Wassers als auch dem Grün der Felder ein fast unnatürliches Leuchten verlieh, war erstaunlich hell.
Irene Bast lebte in zwei ehemaligen Kleinpächterhäuschen außerhalb des Dorfes St Margaret’s Hope. Es waren urige einstöckige Bauten mit schiefen Wänden und Schieferdächern.
Als das Taxi vorfuhr, war sie in ihrem Vorgarten und bückte sich, um einen Fremdling zwischen den üppig wachsenden Blumen auszujäten. Beim Klang der zuschlagenden Wagentüren richtete sie sich auf. Sie stand mit unter der Brust verschränkten Armen da – eine strenge Gestalt in Schwarz –, als Natalie auf sie zuging und Lesley mit ein paar Schritten Abstand folgte.
Natalie blieb an der Holzpforte stehen, versuchte zu lächeln, öffnete den Riegel und trat ein.
»Du siehst aus wie sie«, sagte Irene, ohne das Lächeln zu erwidern. »Das habe ich mir gedacht.«
Ihre Augen leuchteten, waren aber dunkel; die Wangenknochen stachen scharf unter der pergamentartigen Haut hervor; ihr Kiefer war ausgeprägt und stark, ihr Mund eine |396| fest über das Gesicht gezogene Linie. Mrs Danvers in dem Film ›Rebecca‹, dachte Lesley, aber mit Farbflecken an den Fingerspitzen.
»Am besten kommt ihr herein«, sagte sie.
Die beiden Häuschen waren zu einem gemacht worden: In der einen Hälfte wohnte sie, die andere war ihr Atelier.
Natalie stellte Lesley vor; ihre Großmutter musterte die Journalistin mehrere Sekunden lang und nickte schließlich. Dann kümmerte sie sich um den Wasserkessel, um Tee zu machen.
»Lesleys Bruder hat ein Buch über Stella geschrieben«, sagte Natalie. »Bevor er starb.«
Irene gab keine Antwort. Aus einer alten runden Blechdose nahm sie Haferplätzchen, und aus der Speisekammer holte sie Butter, Käse und Marmelade. Lesley und Natalie saßen in Sesseln mit hohen Seitenlehnen; das Muster der Polsterung war verblasst, die Ränder verschlissen und ausgefranst. Der Tee war schwarz und stark, und die gelbliche Milch verlieh ihm die Farbe von brauner Buttercreme.
Natalie zeigte auf den Kaminsims. »Wie ich sehe, hast du meine Karte bekommen.«
»Ich bin trotzdem überrascht, dich zu sehen.«
»Ich hab doch gesagt, dass ich komme.«
Irene schnitt eine Käseecke mit dem Messer durch. »Sagen ist ja nicht dasselbe wie tun. Außerdem, wenn es dir darum gegangen wäre, mich zu sehen, hätte du das in den vergangenen zwölf Jahren jederzeit tun können. Wie alt warst du, als ich dich das letzte Mal gesehen habe? Dreizehn?«
»Ungefähr.«
»Schon damals hattest du etwas Wildes in den Augen.«
Natalie wollte etwas sagen, besann sich aber eines Besseren. Außer dem etwas angestrengten Atmen der älteren Frau und dem fernen Brechen der Wellen in der Bucht |397| war wenig zu hören. Es fällt ihr schwer, Konversation zu machen, dachte Lesley.
»Etwas hat mich verwundert«, sagte sie. »Warum haben Sie sich jetzt zu einer Ausstellung entschlossen,
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