Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Splitterndes Glas - Kriminalroman

Splitterndes Glas - Kriminalroman

Titel: Splitterndes Glas - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
nachdem Sie so lange Zeit nichts gezeigt haben?«
    »Weil ich jetzt etwas zu zeigen habe«, erwiderte Irene. Sie hob ihre Tasse und stellte sie dann wieder auf die Untertasse. »Am besten sehen Sie es sich an. Wo Sie schon so weit gereist sind.«
    Irene stand auf und zog den Vorhang zurück, der das Atelier vom Rest des Hauses trennte. In das Dach waren Oberlichter eingelassen worden, um für mehr Helligkeit zu sorgen. Zahlreiche Leinwände, jeweils zwei oder drei hintereinander, standen an den Wänden, einige bereits für den Transport eingepackt. Weitere Gemälde hingen darüber und nahmen fast allen Platz ein.
    Erst nachdem sich Natalie und Lesley eine ganze Weile umgesehen hatten, nahmen sie ein Bild richtig wahr, das die hintere Wand dominierte und von einem Spotlight beleuchtet wurde.
    Beide machten ein paar Schritte darauf zu, dann blieb Lesley mit offenem Mund stehen.
    Ein kleines Mädchen, nicht älter als acht oder neun – eine jüngere Version des Mädchens auf der Reproduktion, die sie im Flugzeug gesehen hatte – kniete auf der Matratze eines Eisenbettes, während die Figur, die halb Mann, halb Bär war, es von hinten penetrierte. Am Kopfende des Bettes stand ein zweites Mädchen, das zusah und weinte. Obwohl sich der Körper des Mädchens auf dem Bett vor Schmerz verspannte, war in seinen Zügen nur Freude zu sehen, und diese Freude ließ das Gesicht leuchten.
    Das Mädchen sah Natalie so ähnlich, dass man es für eine Doppelgängerin halten konnte.
    |398| »O Gott!«, flüsterte Lesley, als sich Natalie neben ihr umdrehte und sich mit gesenktem Kopf auf den Fußboden erbrach.
     
    Irene kochte noch eine Kanne Tee und zauberte aus irgendeinem Winkel eine Flasche Brandy hervor. Sie hatte Natalie, die zitterte, als hätte sie Fieber, ein Tuch um die Schultern gelegt. Sie hatte sich die anderen Bilder nicht mehr angesehen, Lesley dagegen sehr wohl. Mehr als ein Dutzend von ihnen bearbeitete dasselbe Thema: die beiden kleinen Mädchen, von denen eines gezwungen war, Vergnügen und Schmerz des anderen zu betrachten; den Bären in Menschengestalt.
    In mancher Hinsicht erinnerte Lesley das an einen Film über den amerikanischen Künstler Robert Crumb, den sie mal gesehen hatte. Seine Comics sind angefüllt mit lüsternen Schulmädchen und sabbernden älteren Männern. Aber das sind komische Grotesken, dachte Lesley, sie sind absurd; diese Gemälde dagegen bilden trotz aller fantastischen Elemente die Wirklichkeit ab. Eine unbestreitbare Wirklichkeit.
    Irene beugte sich vor, zog das Tuch um Natalies Schultern gerade und griff nach ihren Händen.
    »Ich hätte dich warnen sollen.«
    In ihrer Stimme lag jetzt eine Zärtlichkeit, die zuvor gefehlt hatte.
    »Schon gut«, sagte Natalie fast flüsternd.
    Irene umklammerte Natalies Hände fester. »Es begann nach meinem siebten Geburtstag. Er kam zu mir, als alle anderen im Bett waren, und sagte, er hätte ein ganz besonderes Geschenk für mich.«
    Einen Augenblick lang sah Lesley weg. In Natalies Kehle stieg Galle auf.
    |399| »Danach kam er zwei- oder dreimal die Woche in mein Zimmer. Und wenn er nicht kam, glaubte ich, ich hätte etwas falsch gemacht und er wäre böse auf mich. Wenn er dann wiederkam, war alles in Ordnung. Aber in einem Jahr, nach Weihnachten – ich war fast neun – kam er lange, lange Zeit nicht mehr, und da wurde mir klar, dass er jetzt in Stellas Zimmer ging. Ich konnte es auch am nächsten Morgen beim Frühstück in ihrem Gesicht sehen, wenn er bei ihr gewesen war: Ihre Augen triumphierten.«
    Natalie zog ihre Hände weg und legte sie stattdessen auf Lesleys Arm.
    »Als wir größer wurden und in die weiterführende Schule kamen, glaubte ich, die Sache mit Stella und unserem Vater wäre zu Ende, aber dem war nicht so. Es hörte nicht einmal auf, als sie alt genug war, um einen Freund zu haben. Manchmal machten sie sich nicht einmal die Mühe, zu verbergen, was sich da abspielte, als wollten sie alle anderen verhöhnen. Als wäre es ihnen vollkommen gleichgültig.
    »Und dann wurde Stella schwanger. Sie tat so, als wäre das Kind von einem Schauspielerkollegen, aber das stimmte nicht. Am Ende kam sie zu mir und sagte   … sie bat mich, das Kind nach der Geburt zu nehmen und als mein eigenes aufzuziehen. Es ist eine Familiensache, sagte sie. Es soll unter uns bleiben.«
    »Verdammt noch mal«, fuhr Natalie sie an. »Wie konntest du das tun?«
    Irene seufzte. »Wenn ich nicht zugestimmt hätte, hätte Stella es abgetrieben. Das Kind wäre

Weitere Kostenlose Bücher