Splitterndes Glas - Kriminalroman
mir nicht sicher.«
Beim Verlassen der Polizeidienststelle begegneten sich Lee Maitland und Will auf der Treppe, und als ihre Schultern sich streiften, drehte Maitland den Kopf in seine Richtung und zwinkerte ihm zu.
38
Natalies Anruf kam völlig überraschend. Lesley war nach der Gegenüberstellung immer noch niedergeschlagen, weil sie das Gefühl hatte, Will Grayson und auch sich selbst irgendwie im Stich gelassen zu haben. Es tat gut, Natalies Stimme zu hören – laut und lebhaft.
»Na, wie geht’s? Wie fühlst du dich?«
|389| »Ging mir schon besser.«
»Wie kommt das?«
»Ach, ich wurde überfallen.«
»Du machst Witze!«
»Schön wär’s.«
»Wo ist das passiert?«
»Direkt vor meiner Haustür.«
»Oh, mein Gott!«
»Halb so wild. Hätte schlimmer kommen können.«
»Aber dir geht’s gut? Du bist nicht schwer verletzt?«
»Ich werd’s überleben.«
»Gut. Ich hab nämlich gedacht, dass du vielleicht Lust auf eine kleine Reise hast.«
»Was für eine Reise?«
»Meine Großtante Stella, all diese Sachen, die dein Bruder wissen wollte – bist du noch immer daran interessiert?«
»Ja, natürlich. Warum?«
»Erinnerst du dich an Stellas Schwester Irene, meine Oma, die Malerin?«
»Die Einsiedlerin.«
»Ja, genau. Also, sieht so aus, als hätte sie das Einsiedlerdasein aufgegeben. Sie macht nämlich eine Ausstellung. In London. Nicht dass sie auf die Idee gekommen wäre, mir das zu erzählen, oder so. Ich hab’s in irgendeiner Zeitschrift gelesen.
Erste Ausstellung der achtzigjährigen Künstlerin seit dreißig Jahren
.« Natalie lachte. »Soweit ich weiß, ist sie neunundsiebzig, aber in dem Alter bringt das Zählen auch nichts mehr.«
»Also gehst du hin? In die Ausstellung?«
»Nein. Ich meine, ja klar, aber das ist noch ewig hin. Mindestens zwei Monate. Nein, ich besuche sie auf der Insel. Und ich möchte, dass du mitkommst.«
Lesley atmete langsam aus. »Und wo ist das?«
|390| »Orkney.«
»Orkney? Das ist ja nicht gerade in der Nähe.«
»Kein Problem. Man kann von Glasgow aus hinfliegen. Sogar von Edinburgh. Ist ’n Katzensprung.«
Lesley zögerte. Prince hatte sie unmissverständlich davor gewarnt, sich in seine Angelegenheiten einzumischen; und der Überfall vor ihrem Haus gab ihr zu denken, obwohl er nicht zwangsläufig in Verbindung damit stand.
»Komm schon«, sagte Natalie. »Willst du oder willst du nicht?«
»Glaubst du, sie spricht mit mir über ihre Schwester?«
Jetzt zögerte Natalie. »Vielleicht.«
»Okay«, sagte Lesley. »Dann komme ich mit.«
Sie war schließlich Reporterin, was sollte sie anderes sagen?
Irene Bast – sie hatte den Namen ihres Mannes angenommen, als sie heiratete, und ihn auch nach seinem Tod beibehalten – hatte an der Byam Shaw School of Art Malerei studiert, wie Lesley herausfand, als sie den Namen googelte. Mehrere Jahre lang lebte und arbeitete sie als Mitglied einer Künstlergruppe, die sich in Lamorna im Südwesten Cornwalls angesiedelt hatte, dann zog sie für kurze Zeit nach Staithes in Nord-Yorkshire, bevor sie nach Schottland ging. Ihre bevorzugten Motive waren Gärten und häusliche Interieurs. Sie wurde mit Angela Burfoot und Winifred Nicholson verglichen, was Lesley wenig oder nichts sagte.
Die einzige Reproduktion, die Lesley finden und ausdrucken konnte, war die eines recht zarten Gemäldes mit rosafarbenen und blauen Blumen – Nelken? – in einer Glasvase mit schlankem Hals, neben der ein leeres Wasserglas stand. Vase und Glas standen auf einem blassgelben Tuch, das mit einer ordentlichen Falte über die Tischkante im |391| Vordergrund des Bildes hing. Mit scheinbarer Lässigkeit war im Hintergrund ein Stück dunkler gemusterter Stoff – überwiegend grün und rot – über die Rückenlehne eines Stuhls drapiert worden, und die Wand dahinter war in gedämpftes Braunorange und Grau getaucht.
Trotz der vielen verschiedenen Farben biss sich keine mit der anderen und alles war am richtigen Ort. Lesley hatte den Eindruck, mit diesem Gemälde könnte man lange leben und würde es als beruhigend, sogar schön empfinden.
Sie trafen sich im Flughafen von Glasgow. Natalie war mit einem Flieger aus Heathrow gekommen und Lesley war von Nottingham East Midlands aus geflogen. Lesley reiste vernünftig in einem leichten knitterfreien Anzug und hatte Kleidung zum Wechseln und ein paar Extras in einer Reisetasche dabei; Natalie hatte sich für ein eisvogelblaues Kleid, wadenlange schwarze Leggings und silberne
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