Splitterndes Glas - Kriminalroman
wie sehr er sich beschwert hat. Es war fast so, als wäre diese Seite seines Lebens geregelt, solange Mark da war, als müsste er sich keine Gedanken mehr darüber machen und sich nicht allzu sehr anstrengen.«
»Bei Ihnen klingt es eher nach einem zweckmäßigen Arrangement als nach etwas anderem.«
»Vielleicht war es das auf gewisse Weise für Stephen auch. Obwohl es so aussieht, als hätte er Mark ausgenutzt, aber ich glaube nicht, dass das stimmt. Er war immer ganz ehrlich mit Mark. Soweit ich weiß, hat er nie etwas versprochen, das er dann nicht gehalten hat.«
»Und außer Mark gab es keinen anderen, mit dem Stephen ein Verhältnis hatte?«
»Nicht, dass ich wüsste. Nein.«
|68| »Gut.« Will sah unverhohlen auf seine Uhr.
»Das ist alles?«, sagte Lesley.
»Ich fürchte, ja.«
Widerstrebend stand Lesley auf. »Hier«, sagte sie und griff in ihre Tasche. »Ich gebe Ihnen meine Karte. Wenn irgendetwas auftaucht, lassen Sie mich das vielleicht wissen?«
»Natürlich«, sagte Will.
Sie hatte da ihre Zweifel.
Als Will zurückkehrte, nachdem er Lesley hinausgebracht hatte, saß Helen auf seinem Stuhl, einen Fuß gegen die Schreibtischkante gelegt.
»Wer war das?«
»Bryans Schwester.«
»Ist die nicht in Neuseeland?«
»Offenbar nicht. Nicht mehr. Sie ist wieder da und arbeitet für einen Lokalsender.«
»In Cambridge?«
Will schüttelte den Kopf. »Nottingham.«
»Und hatte sie was Hilfreiches zu sagen?«
»Eigentlich nicht.«
Helen kam auf die Füße. »Hast du Lust, einen Happen zu essen?«
»Kann nicht. Ich hab eine Besprechung, drüben im Hauptquartier.«
»Mein Herz blutet.«
Will nahm seinen Anorak von der Tür; Regen war angesagt. »Wie läuft es mit der Liste, die wir von McKusick bekommen haben?«
»Sie ist in Arbeit, aber ich kann das überprüfen.«
Helen begleitete ihn bis zur Treppe.
»Viel Spaß im schönen Huntingdon.«
|69| »Werde mein Bestes tun.«
Will war noch gar nicht an seinem Auto, als es tatsächlich zu regnen begann.
6
Der Wecker ließ Lesley aus den wirren Tiefen eines Traums aufschrecken: Die Wellen brachen sich wild an den Felsen der Coromandel-Halbinsel, hoch oben auf der Nordinsel von Neuseeland, und die Hand eines Mannes – ihres Bruders? – streckte sich über die Gischt und verschwand wieder.
Sobald ihre Füße den Boden berührten, verschwanden die Erinnerungen an diese letzte Reise nach Norden sofort – Colville, Port Jackson, Waikawau Bay. Durch die Lücke im Vorhang sah der Tag glücklicherweise vielversprechend aus: blauer Himmel hinter einer dünnen Gardine aus spärlichen Wolken. Die Ziegel und Steine der alten Lagerhäuser des Lace Market zeichneten sich in dem frühen Licht, im blassen Schimmer der Sonne ab.
In ihrem briefmarkengroßen Badezimmer spritzte sich Lesley kaltes Wasser ins Gesicht und putzte sich die Zähne. Sie zuckte zusammen, als eine lockere Füllung sie an den Besuch beim Zahnarzt erinnerte, den sie immer noch vor sich herschob. Sie zog ihren Morgenmantel an, ging zur Küchenzeile hinüber und füllte den Kessel; während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, blätterte sie die Zeitung vom Vortag durch; ein paar Schlucke Tee und sie trug den Becher ins Badezimmer, wo er auf dem Fensterbrett stand, solange sie duschte. Später würde sie eine zweite Tasse zu der üblichen Scheibe Toast trinken. Dann konnte sie die Zeitung genauer lesen, in ihren Terminkalender |70| sehen und kurz bei ihrer Mutter anrufen, um diese zu beruhigen. Das gemietete Apartment in der obersten Etage einer umgebauten Fabrik war nur ein paar Minuten zu Fuß von ihrem Arbeitsplatz entfernt.
Heute würde sie die Rolle der Nachrichtensprecherin übernehmen, Beginn um neun Uhr dreißig, über den Tag verteilt immer wieder fünf Minuten Nachrichten. Die Arbeit war im Großen und Ganzen immer noch so strukturiert wie vor ihrem Sabbatjahr: Lesley und fünf weitere Reporter wechselten alle paar Tage ab zwischen der Berichterstattung vor Ort – Interviews mit allen möglichen Personen von untröstlichen Eltern bis zu stolzen Besitzern von preisgekrönten Frettchen – und der Arbeit in der Nachrichtenredaktion, dem Schreiben der Meldungen und ihrem Verlesen auf Sendung.
Selten ein langweiliger Moment.
Selten Zeit, an anderes zu denken.
Aber trotzdem dachte sie an etwas anderes. Manchmal an die Zukunft. Die Bedingung für ihr Jahr im Ausland war gewesen, dass sie weitere zwölf Monate beim Sender bleiben würde, bevor sie versuchte, sich zu
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