Splitterndes Glas - Kriminalroman
»Die Sache mit Ihrem Bruder tut mir leid«, sagte sie.
»Danke.«
Helen drehte sich um und schob eine Tür auf, die in einen langen Korridor führte; Lesley folgte ihr.
»Hier bewahren wir alles auf; alles, was wir aus dem Haus mitgenommen haben. Papiere, Ordner. Einiges scheint sortiert zu sein, aber nicht alles.«
|153| Helen blieb stehen, schloss eine Tür auf und trat zur Seite, um Lesley durchzulassen. Es gab einen leeren Tisch und einen einzigen Stuhl; drei Reihen von Aufbewahrungskisten auf dem Fußboden.
»Ihre Tasche«, sagte Helen.
»Die wurde unten schon kontrolliert.«
»Ich würde es gern noch einmal tun.«
Lesley nahm die rote-graue Tasche von der Schulter, legte sie auf den Tisch und trat zurück.
»Würden Sie sie bitte für mich öffnen?«
Lesley löste die beiden Verschlüsse und das Klettband. In einem gepolsterten Fach war ihr Laptop untergebracht, in einem anderen Minidisc-Rekorder und Mikrofon, Notizbuch und Stifte. Ihr Mobiltelefon steckte in einer kleinen Tasche an der Seite.
Helen musterte kurz den Inhalt der Tasche und trat zurück. »Hübsche Tasche, übrigens«, sagte sie. »Witzig. Wo haben Sie die her, wenn ich fragen darf?«
Lesley lächelte. »Aus Australien, aus Sydney. Aber ich glaube, man bekommt sie jetzt auch hier. Ein Laden in Nottingham hat sie auf Lager. Hatten sie zumindest. In der St James Street.«
»Danke für den Tipp.« Helen ging zur Tür. »Ich lasse Sie jetzt allein. Reichen Ihnen zwei Stunden? Niemand wird Sie stören.«
Lesley hob den Deckel der ersten Kiste und setzte sich. Allein in diesem erst kürzlich gestrichenen Raum hatte sie hoch oben in der Ecke nur eine Überwachungskamera zur Gesellschaft.
Bald stellte sich heraus, dass zwar einige der Papiere ihres Bruders mehr oder weniger zusammengehörten, andere jedoch erheblich durcheinandergeraten waren und aufeinanderfolgende |154| Seiten wenig oder keinen erkennbaren Bezug hatten. Lesleys erste Aufgabe war es deshalb, die vermischten Blätter zu sortieren und eine gewisse Ordnung herzustellen, wenn es möglich war.
Als die erste Stunde zu Ende ging, hatte sie erhebliche Fortschritte gemacht, genug, um zu erkennen, dass sie niemals jedes Wort würde lesen können, jedenfalls nicht in der Zeit, die ihr zur Verfügung stand. Sie würde Prioritäten setzen müssen, so gut sie konnte.
Es gab Notizen für die Kurse, die Stephen gegeben hatte, mit den dazugehörigen Leselisten; außerdem Konzepte von Artikeln, die er für verschiedene Zeitschriften geschrieben hatte; häufig gab es mehrere Versionen davon, die er ausgedruckt und mit handschriftlichen Anmerkungen versehen hatte.
Ihr Bruder schrieb in einem leichten, etwas bissigen Stil, lockerte sein offensichtlich enzyklopädisches Wissen mit Humor und Anekdoten auf und beschränkte die kritische Theorie auf ein Minimum.
Es gab auch sehr detaillierte Notizen zu einzelnen Filmen, von denen eine ganze Reihe mit Zeichnungen illustriert war, in denen die Charaktere als bessere Strichmännchen dargestellt wurden; einige dieser Notizen waren ausgearbeitet, andere waren die hingekritzelten Bemerkungen geblieben, die Stephen beim Betrachten des Films gemacht hatte.
Beim ersten Blick auf die Notizen hatte Lesley Stephens unverwechselbare Handschrift erkannt, und sie musste sich zurücklehnen und tief Luft holen, bevor sie weitermachen konnte.
Abgesehen von ein paar zerknitterten Seiten, die aus einem frühen Entwurf stammen mochten, konnte Lesley jedoch kaum einen direkten Verweis auf die versprochene |155| Biografie über Stella Leonard finden. Bruchstücke, verworfene Ansätze, aber kein klares Konzept, keine Gliederung, keine detaillierten Notizen zur Recherche, kein Plan. All das, nahm sie an, hatte sich auf der Festplatte seines Computers befunden, möglicherweise gesichert auf Disketten, die ebenfalls fehlten.
Als sie das bereits gesichtete Material noch einmal überprüfte, stellte sie fest, dass Stella Leonard in zwei Artikeln erwähnt wurde. In einem Aufsatz über den britischen Kriminalfilm befasste sich ein ganzer Abschnitt mit ›Splitterndes Glas‹ und verglich den Film durchaus positiv mit verschiedenen Beispielen des amerikanischen
film noir
der 1940er-Jahre.
Inzwischen waren ihre Augen müde und sie spürte, wie sich ein dumpfer Kopfschmerz entwickelte; ihrer Uhr zufolge war die Zeit fast um. Nur ein paar Minuten später als angekündigt klopfte Helen Walker an die Tür und schob sie auf.
»Wie geht es denn so?«
Lesley lächelte.
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