Splitterndes Glas - Kriminalroman
Behandlung bekommen.
Sie sind schneller wieder bei der Arbeit, als Sie denken, hatte der junge Arzt gescherzt.
Schneller, als sie gedacht hatte, hätte sie sterben können, wie Helen klar wurde. Mehr hätte es nicht gebraucht: eine |286| einzige Sekunde, das Zucken eines Augenlids. Noch eine Drehung des Messers.
Nach der Dusche hatte sie sich auf ihrem Bett ausgeruht, und als die Langeweile sie überkam, hatte sie es geschafft, durch die ganze Station zu laufen und dann hinaus auf den breiten Korridor bei den Fahrstühlen. Da stand sie jetzt, lehnte sich an die Wand und sah durch die schmutzige Fensterscheibe auf den Parkplatz hinunter. Leute flitzten hin und her, hielten Mitbringsel in der Hand oder sahen auf die Uhr und beschleunigten ihre Schritte, weil sie spät dran waren. Alle führten ein ganz normales gehetztes Leben. Quicklebendig, so sagte man doch? Und trotzdem blieben einige hier, andere gingen fort. Fielen, ohne es zu wissen, in einen Schlaf, aus dem sie nicht mehr erwachten, sei er natürlich oder künstlich durch eine Narkose herbeigeführt.
Kein Geschrei, kein Drama, keine Aufregung.
Den einen Moment bist du da und dann nicht mehr.
Das erschreckte Helen am meisten. Dass man einen Atemzug tun konnte und dann verschwinden.
Und wer würde es zur Kenntnis nehmen oder sich etwas daraus machen? Ihre Eltern, gewiss, ihre Schwester, eine Handvoll Kollegen, möglicherweise ein paar Schulfreunde. Und Will.
Das wäre ja eine schöne Beerdigung, dachte sie. Eine ganz schön beschissene Beerdigung. Waren das die einzigen Menschen, dir ihr etwas bedeuteten oder denen sie etwas bedeutete?
Böse schüttelte Helen den Kopf. Böse auf sich selbst. Hör mit dieser sentimentalen Scheiße auf, du blöde Kuh! Du bemitleidest dich selbst, weil du am Leben bist. Wie erbärmlich, wie dumm das ist!
Als sie sich zu ihrem Bett zurückgeschleppt hatte, war sie überrascht, Lesley Scarman dort warten zu sehen. Trauben, |287| eine Schachtel Pralinen, ein Strauß Narzissen. »Ich wusste nicht, was ich mitbringen sollte.«
»Und deshalb haben Sie einfach alles mitgebracht.«
»Ja, so ähnlich.«
Einen Augenblick lang herrschte betretene Stille.
»Die Schwester wusste nicht, wo Sie waren. Sie dachte, Sie wären vielleicht auf der Toilette.«
»Nein, ich war …« Helen warf einen Blick über die Schulter. »Ziemlich bedrückend, wenn man die ganze Zeit hier festsitzt. Deshalb mache ich immer eine kleine Wanderung, wenn es geht.«
»Ich wollte schon früher kommen. Als ich hörte, was passiert ist. Aber Sie wissen ja, die Arbeit und …«
»Das verstehe ich.«
»Ich habe mit Inspector Grayson telefoniert. Habe mich nach Ihnen erkundigt.«
»Ja, er hat es mir ausgerichtet.«
»Und ist alles in Ordnung?«
Helen lächelte. »So gut wie neu.«
»Gut.«
»Es wird eine Narbe bleiben.«
»Sie sehen sehr gut aus.«
»Na ja.«
»Doch. Das tun Sie.«
Beim Anblick von Lesley, die etwa so alt war wie sie selbst und in ihrer blauen Baumwolljacke, dem cremefarbenen Top und den schwarzen Hosen wie das blühende Leben wirkte, fühlte Helen sich noch schlimmer.
»Ich würde gerne mit Ihnen über etwas reden«, sagte Lesley. »Aber nur, wenn es nicht zu viel für Sie ist. Ich …«
»Geht es um Ihren Bruder?«
»Ja. Gewissermaßen.«
»Ist etwas passiert?«
|288| »Eigentlich nicht.«
Helen zog die schmale Schublade im oberen Teil des Schränkchens neben ihrem Bett auf und griff nach ganz hinten. »Ich muss die immer gut verstecken.« Sie ließ eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug in die Tasche ihres Bademantels gleiten. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, mir ein bisschen zu helfen, könnten wir nach draußen gehen und die Luft verpesten.«
Unten angekommen, suchte Helen eine Bank außerhalb der Sichtweite des Rauchen-Verboten-Schildes, bevor sie sich eine Zigarette anzündete. »Sie hätten in den Laden flitzen und sich ein Twix kaufen sollen«, meinte sie.
Lesley lächelte und schüttelte den Kopf.
»Was immer es ist«, sagte Helen, »Sie können es mir sagen.«
So knapp wie möglich berichtete Lesley von ihren Versuchen, Howard Prince zu sprechen, auch von dem Besuch bei seinem Haus in den Fens; sie erzählte, dass sie bei der Arbeit verwarnt worden war, und sprach von ihrer Befürchtung, verfolgt zu werden, sowie von ihrer Überzeugung, dass ihre Wohnung durchsucht worden war.
»Wonach wurde denn gesucht?«, fragte Helen.
»Ich weiß es nicht.«
»Aber was immer es ist, Sie glauben, dass Howard
Weitere Kostenlose Bücher