Splitternest
Untergang sie erreicht hatte. Die Armen waren im Gildenreich geblieben. Sie sahen ihrem Schicksal leidenschaftslos entgegen.
Das Zeltlager vor den Stadtmauern hatte der Priesterrat vor einigen Wochen errichten lassen. Gehani platzte aus allen Nähten. Unzählige Menschen waren in die Stadt am Dumer gekommen, die meisten von ihnen Troublinier, in jüngster Zeit auch Flüchtlinge aus Aroc und Varona. Längst konnten nicht mehr alle in der Stadt unterkommen. Einige waren weitergezogen, nach Bolmar oder in die heißen Steppen Thokas. Denn die Goldéi, so wussten alle, würden eines Tages auch nach Ganata kommen und damit eine der letzten Städte von Gharax einnehmen.
Ein junger Priester schritt durch das Lager, in der linken Hand eine Kordel mit Zählscheiben. Geschickt ordnete er sie mit den Fingern, während er die Zelte passierte. Auf der Stirn war mit einem Kohlestift das Zeichen der verblühten Rose aufgemalt. Die Bathaquar verbarg sich längst nicht mehr hinter Masken. Sie trug offen zur Schau, dass sie zurückgekehrt war und über die Kirche des Tathril herrschte. Niemand wagte es, gegen sie aufzubegehren, seit die letzten Weißstirne Gehani verlassen hatten. Sie waren vor Wochen zum Berg Arnos aufgebrochen, um sich Nhordukaels Kämpfern anzuschließen. Damit hatten sie der Bathaquar ganz das Feld überlassen. Die Sekte herrschte nun eisern über das Fürstentum am Dumer. Nicht wenige Menschen trugen selbst schon verblühte Rosen auf den Stirnen. Denn wer sich zur Bathaquar bekannte, der konnte im Tempel Brot und Suppe bekommen. Die anderen mussten darben.
Der junge Priester hatte das Lager durchquert. Am Ende standen gedrungene Zelte. Holzkarren ruhten im Dreck. Davor hatte sich ein Dutzend Männer versammelt. Sie trugen verschmutzte Pelzmäntel, zu dick und wuchtig für die Jahreszeit. Sie waren kräftiger als die anderen Flüchtlinge, und keiner von ihnen hatte rotes Haar. Ihre Bärte waren ungepflegt.
Einer von ihnen kam auf den Priester zu. Der Mann trug eine Lederhaube; wilde Locken umrahmten sein Gesicht. Er trug zerrissene Handschuhe und ein kurzes Schwert am Gürtel. Sein Blick hatte etwas Verstörendes.
»Ihr seid keine Troublinier«, stellte der Priester fest. Die Finger seiner linken Hand spielten mit den Zählscheiben, klack, klack. »Woher seid ihr geflohen?«
»Wer will das wissen?« Der Mann baute sich vor ihm auf. Auch er war noch jung, doch seine Augen waren gerötet wie die eines Greises. Sein Atem roch nach billigem Wein.
Der Priester gab sich Mühe, mit fester Stimme zu antworten. »Der Rat der Priester von Gehani! Alle Flüchtlinge werden von uns erfasst. Wie sollen wir sonst die hungrigen Mäuler stopfen?«
»Die hungrigen Mäuler unter verdorrten Rosen.« Der Fremde deutete auf die Stirn seines Gegenübers. »Welch ein hübsches Zeichen du da trägst … was mag es wohl bedeuten? Halt, sag nichts. Ein Diener Tathrils bist du, einer, der das Beste für die Menschen will.« Er drängte sich an den Priester heran. »Ich kenne euch Bathaquari. Von euch nehme ich keine Befehle entgegen. Nie wieder!«
Der Priester schnappte nach Luft. »Willst du frech werden? Soll ich die Wachen holen, damit sie dir Manieren beibringen?«
»Ich suche keinen Streit.« Der Mann strich sich mit der linken Hand über den Bart. Ein goldener Krebs war in den Stoff des zerschlissenen Handschuhs eingestickt. »Wir kommen aus Aroc und sind vor den Goldéi geflohen, erst nach Troublinien, dann hierher. In Taruba waren wir nicht sicher. Die Schiffe der Echsen nähern sich dem Festland, wusstest du das?«
»Natürlich, das war vorherzusehen. Die Großgilde rechnet seit Wochen mit einem Angriff.«
»Dann erzähle ich dir wohl nichts Neues. Als ich Taruba verließ, lief bereits die Flotte des Gildenrats aus, um die Schiffe der Goldéi abzufangen. Aber den Echsen kann niemand entkommen. Taruba ist vermutlich längst gefallen. Der Prior Levaste weiß es bestimmt. Er ist ja ein Zauberer, er spürt, was in der Sphäre geschieht. Hat sich wohl nichts anmerken lassen, der Hund …«
Der Priester schüttelte den Kopf. »Was redest du da, Bursche? Willst du mir nicht lieber sagen, wer du bist und warum ihr bewaffnet seid?«
»Wir sind die Ritter der Neun Pforten, und ich habe eine Botschaft für deinen Prior. Denn ich habe gesehen, was mit der Stadt Imris geschah, ehe die Goldéi sie zerstören konnten.«
Der Priester zögerte. »Das klingt interessant. Gürte das Schwert ab, Bursche, dann bringe ich dich zu
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