Splitternest
fielen Diamanten aus seinen Augen. Da gab sich Durta Slargin zu erkennen. Er sagte zu dem Vogel: ›Ich habe das Schwarze Ei gestohlen und versteckt. Du wirst es niemals ohne meine Hilfe finden. Willst du es zurückhaben, musst du folgendes tun – du musst die anderen Eier zerschlagen, eins nach dem anderen …‹«
»Eins nach dem anderen«, plapperte Marisa dazwischen. »Das war ja das Fiese an Durta Slargins Plan!« Sie kannte die Geschichte gut. Diese Stelle mochte sie besonders gern.
»Der Vogel weinte bitterlich«, setzte Orusit erneut an. »Er krächzte: ›Verlange das nicht von mir, Durta Slargin! Ich habe die Eier selbst gelegt, meine Küken schlafen darin!‹ Aber der Zauberer blieb hart. Er sprach: ›Entscheide dich. Entweder du zerschlägst dein Gelege oder das sechste Ei bleibt für immer mein.‹ Und der Vogel, der voller Gram auf sein Nest blickte, antwortete: ›Du hast meinen wunden Punkt entdeckt, Zauberer. Dieses Ei war mir das liebste. Ich muss tun, was du verlangst.‹ Und so hackte er mit seinem Schnabel ein Ei nach dem anderen auf; zuerst das kupferne, in dem sich ein nacktes, blutiges Küken wand und an der Luft verstarb. Dann zerschlug er das Ei aus Zinn und tötete auch dieses Küken. Und so folgte ein Ei nach dem anderen: das eiserne, das silberne und zuletzt das goldene. Aber als der Vogel dieses letzte, goldene Ei zerhackte und das Küken in der geborstenen Schale verendete, da sprang ihm vor Trauer das Herz entzwei. Sein steinernes Gefieder, ja, sein ganzer Leib zerfiel zu Splittern; und diese bunten Scherben liegen noch heute im Nest und erinnern daran, wie Durta Slargin unseren Landstrich von der Kreatur befreite.«
Orusit schwieg. Die Troublinier hatten aufmerksam zugehört. Ihre Blicke wanderten zu dem Hügel, von dem die Legende handelte. Er wirkte unscheinbar, bewachsen mit Gräsern und niedrigen Birken.
»Dürfen wir denn nun hin?« quengelte Banja. »Wir wollen ja nur spielen. Vielleicht finden wir die Reste der Vogeleier zwischen den Steinen. Sie sollen ganz aus Gold und Silber sein.«
Der Anführer der Troublinier dachte nach. »Nun, ich denke, es kann nichts schaden.« Es war offensichtlich, dass die Geschichte seine Neugier geweckt hatte. »Wir werden alle dorthin gehen. Und keine Dummheiten, Kinder! Wehe, ihr büxt aus.«
Die Troublinier hoben ihre Helme auf. Dann folgten sie Orusit, der die kleine Gruppe humpelnd anführte. Banja stützte ihn. Ihre vier Füße ließen eine seltsame Spur im Sand zurück, fast wie die eines großen Krebses – fand Marisa, die hinter ihnen ging. Ihr Herz hüpfte; sie freute sich auf das Splitternest, denn sie war erst einmal dort gewesen, mit ihrem Vater. Es war eine Weile her, kurz nach Marisas fünftem Geburtstag. Sie konnte sich noch gut an dieses Abenteuer erinnern.
»Ihr müsst aber vorsichtig sein«, mahnte Orusit leise. »Es haben sich schon viele an den Steinsplittern geschnitten. Diese Wunden verheilen schlecht und hinterlassen hässliche Narben!«
Banja blickte sich nach den Troubliniern um. Sie unterhielten sich miteinander, vermutlich über die Legende vom Splitternest, denn mehrmals fiel Durta Slargins Name. »Uns passiert schon nichts. Aber die Kerle sollen uns in Ruhe lassen. Ich will nicht, dass sie mit uns den Hügel hochsteigen.«
Orusit streichelte ihr über den Kopf. »Du musst Geduld haben, Herzchen. Solange die Troublinier in Gehani sind, musst du tapfer bleiben. Ich weiß, wie schwer diese Zeit für euch Kinder ist. Euer Vater wäre stolz auf euch. Auf euch alle drei.«
Der Pfad wich nun vom Flussufer ab. Hier war der Sand dunkler, der Wuchs blieb aber karg. Dunkelgrüne Ranken bedeckten den Boden wie ein Teppich; dazwischen sprossen kleine gelbe Blüten, die einen herben Geruch verströmten. Das Dumkraut … es prägte seit jeher den Norden Ganatas und verlieh selbst den Einöden am Fuß des Hochlands einen warmen Farbton. Er verlor sich erst in den Feldern südlich von Gehani.
Nun standen sie vor dem Hügel. Der Hang war steil, ein überwucherter Weg führte zur Kuppe empor. Eine seltsame Stimmung ging von diesem Ort aus. Seine Verlorenheit färbte auf die ganze Umgebung ab.
Banja löste sich aus der Umarmung des Großonkels. Sie nahm Marisa an die Hand.
»Komm, Kleine. Zeigen wir den Kerlen mal, wie schnell wir laufen können.« Sie zwinkerte ihrer Schwester zu.
Und dann rannten sie! Sie rannten den Hang empor, als ob der Vogel aus Orusits Geschichte sie verfolgte. Hinter ihnen erschallten die Rufe
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