Splitternest
der Troublinier.
»He! Wartet!«
Die beiden dachten überhaupt nicht daran. Der Hang war steil; einmal stolperte Marisa, als ihr Fuß sich in einer Ranke verfing. Aber Banja ließ sie nicht los. Schon hatten die Mädchen die Hügelkuppe erreicht, während die Troublinier ihnen nachbrüllten.
Jenseits der Kuppe fiel der Hügel leicht ab. Dort lag der Krater, von dem Orusit erzählt hatte – das Splitternest. Die Grasnarbe brach ab und gab nackten Fels frei. Weder Moos noch Flechten gediehen auf ihm. Das Gestein bildete eine Senke, wohl einen Schritt tief. Der Grund war bedeckt mit Splittern: längliche Brocken aus dunklem Sithalit, aus rotem Padril und giftgrünem Zindrast, dazwischen Salphurstücke, leuchtend und gelb wie die Blüten des Dumkrauts. All diese Splitter funkelten im Sonnenlicht – ein Schatz aus prunkvollen Steinen, deren Kanten jedoch messerscharf waren.
Marisa drängte sich an ihre Schwester. Das Splitternest erschien ihr viel bedrohlicher als bei ihrem ersten Besuch. Vielleicht lag es daran, dass Baniter heute nicht bei ihnen war.
Damals hatte er Marisa auf den Arm genommen. Sie hatte auf die funkelnden Steine hinabgeblickt, und Baniter hatte ihr die Legende von dem verzauberten Vogel erzählt, noch schöner und rätselhafter als Onkel Orusit. »Keine Angst, Kätzchen«, hatte er Marisa dabei ins Ohr geflüstert. »Es ist nur eine Geschichte. Diesen Vogel hat es nie gegeben, und einen Durta Slargin auch nicht.« Dann war er in den Krater geklettert und hatte für sie einen Splitter aus dem Nest gesucht; eine flache Padrilscherbe. Marisa besaß sie noch immer; sie baumelte als Anhänger um ihrem Hals. Immer, wenn sie ihren Vater sehr vermisste – in der Nacht, wenn es still in der Burg war und ihre Schwestern schliefen –, holte sie die Scherbe hervor und küsste sie. Sie hoffte, Baniter würde es merken und endlich zurückkommen.
Banja riss sie aus ihren Träumereien. »Los, komm. Wir müssen uns verstecken. Sollen die Troublinier ruhig ein wenig nach uns suchen.«
Marisa zögerte. »Aber du hast doch am Fluss gesagt, dass wir sie nicht ärgern sollen!«
»Sei nicht kindisch! Ich habe meine Meinung eben geändert, weil sie so gemein zu uns waren, und auch zu Onkel Orusit. Komm! Wir legen uns im Gestrüpp auf die Lauer.«
Sie eilten am Rand des Kraters entlang zur anderen Seite. Dort standen Birken; dichter Farn wucherte zwischen den Stämmen. Banja zog Marisa hinter die Blätter. Sie kauerten sich zusammen, so dass ihre Köpfe ganz in den Farnen verschwanden. Aufgeregt blickten sie zur anderen Seite des Hügels.
Die Troublinier ließen nicht lange auf sich warten. Schon erschienen ihre behelmten Köpfe, alle vier. Sie hatten Orusit wohl unten zurückgelassen, um die Mädchen einzufangen.
»Wartet nur … wenn ich euch erwische, dann setzt es etwas!« Der Anführer schien richtig wütend. Er wies seine Männer an, den Rand des Splitternests abzusuchen. Er selbst kletterte in den Krater. »Ich bin nicht nach Ganata gekommen, um freche Gören zu hüten! Euch prügele ich windelweich, bis ihr hinkt wie euer Onkel!«
Die Gildenkrieger kamen näher. Die Mädchen sahen sich erschrocken an.
»Vielleicht … sollten wir uns doch zeigen«, flüsterte Marisa. »Er ist sehr zornig.«
Banja war ganz blass um die Nasenspitze. Das Versteckspiel war eine dumme Idee gewesen, das wusste sie nun. Sie beobachtete den Anführer voller Furcht. Er stand fast im Mittelpunkt des Kraters, bückte sich nach den Scherben. Das Glitzern fesselte ihn. Dann aber riss er plötzlich die Hand zurück. Er hatte sich geschnitten.
»Verdammt!« Er hob den Kopf. »Wo sind die Mädchen? Ich werde sie selbst bestrafen!«
Er wollte kehrtmachen und aus dem Krater steigen. Doch er kam nicht weit. Vor ihm funkelten plötzlich die Steine auf, als hätte ein Sonnenstrahl sie getroffen. Der Himmel aber war grau, eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben. Und doch glitzerten und strahlten die Steine, dass die Troublinier ihre Augen abwenden mussten.
»Was, bei Tathril …«
Der Troublinier schrie auf. Schmerz in seiner Stimme, gellend sein Schrei. Banja und Marisa fassten sich an den Händen, mussten beide blinzeln, so hell schimmerte es nun aus dem Splitternest. Und doch sahen beide in der Mitte des Kraters eine Gestalt kauern, zwischen den Steinen, wie ein frisch geschlüpfter Vogel; eine Frau in einem dunkelblauen Kleid. Sie hatte das Gesicht in den Händen geborgen. Um sie bewegte sich der Felsen, ein Strudel aus
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