Splitternest
war eine nach allen Seiten offene Plattform, von Streben gestützt. Zudem war sie etwas abschüssig. Wer nicht Acht gab, konnte leicht auf den geriffelten Steinen ausgleiten und in den Burghof stürzen. Baniter hatte seinen Töchtern stets untersagt, sie zu betreten. Zu viele Menschen hatten sich zu weit an den Rand gewagt und waren zu Tode gekommen.
Der Rat der Priester versammelte sich regelmäßig auf Vinnors Terrasse. Vom Turm aus war Gehani gut zu überblicken, auch der Dumer und die großen Straßen, die von Osten, Westen und Süden her bis vor die Stadtmauern führten. Der Prior schätzte den Ausblick, und auch wenn die anderen Bathaquari nicht so schwindelfrei waren wie er, wandelten sie mit Levaste um den Turm und berieten sich mit ihm. Denn der Priesterrat hatte die Aufgabe übernommen, das Fürstentum Ganata durch die schrecklichen Zeiten zu führen.
»Ein bisschen Blut … was ist schon dabei!« Levaste rümpfte die Nase. »Ist es zuviel verlangt, dass diese schlichen Gemüter nachempfinden, was wir Priester täglich erleiden? Den Schmerz, der uns quälte, als die Goldéi Taruba einnahmen und die Quelle des Grauen Hügels befreiten? Die Mattheit, wenn die Sphäre an unseren Kräften nagt?« Die anderen Bathaquari nickten traurig. »Wir alle müssen Opfer bringen. Tathril verlangt es! Ein wenig Blut, verspritzt auf weißen Marmorsteinen; ein kleine Gabe für den Herrn der Sphäre, damit er uns beschützt, solange wir auf die Auserkorenen warten. Die Kirche hat das Volk zu lange geschont. Dem bereiten wir ein Ende. Eines Tages wird man uns dafür danken.«
»Das glaubt Ihr doch selbst nicht!«, rief Sinsala. »Die Leute verachten die Bathaquar, und das wisst Ihr genau.«
Der Prior schwieg. Die anderen Priester wechselten erstaunte Blicke. Einer von ihnen, ein hagerer Troublirtier mit schütterem Haar, ergriff das Wort. »Was meint sie damit, Prior? Habt Ihr uns etwas verschwiegen?«
»Oh, diese alte, dürftige Geschichte«, sagte Levaste wie beiläufig, »längst vergessen, belanglos!« Er zögerte, doch nach einem Blickwechsel mit Sinsala entschied er sich, fortzufahren. »Als das Kaiserreich gegründet wurde, stand an dieser Stelle ein Dorf, Adris mit Namen. Der Silberne Kreis hatte gerade den Kaiser gewählt, Are Aldra; und dieser große Mann hatte einen kleinen Bruder, Vinnor Aldra, der selbst gern Kaiser geworden wäre. Also verbannte ihn Are Aldra nach Adris; und Vinnor, der recht tüchtig gewesen sein muss, mehrte seinen Reichtum, ließ die Burg errichten und baute Adris zu einer mächtigen Festung aus. Dann sammelte er Truppen um sich, erklärte dem ganzen Kaiserreich den Krieg und zog mit seinem Heer auf Vara …«
»Ihr erzählt nicht die ganze Geschichte!« Mutig baute sich Sinsala vor den Priestern auf. »Die Wahrheit ist, dass er der Bathaquar Einhalt gebieten wollte. Sein Bruder, der Kaiser, beschützte Euch Priester! Es bestand die Gefahr, dass die Kirche alle Macht an sich reißen wollte. Deshalb wandte sich Vinnor gegen den Kaiser! Er wollte Sithar retten!«
»Ach! Der gute Vinnor war also kein Verräter, sondern ein Held!« Levaste kicherte »So wie dein Urgroßvater Norgon, was, Kindchen? Natürlich unterstützte Are Aldra die Bathaquar! Jeder weise Mann hat dies damals getan, aus Dank für Sithars Errettung. Wer löschte denn damals das Heer der Königreiche aus? Die Bathaquar! Wer brachte den Hauch von Nekon über die Sklavenhalter und beendete den Südkrieg? Die Bathaquar! Der Kaiser belohnte die Priester nur für ihre mutigen Taten, so wie es später auch seine Tochter Tira tat. Aber Vinnor, der falsche Hund – er wollte keinen Frieden! Mordend und brandschatzend zog er auf Vara und konnte erst im letzten Augenblick aufgehalten werden.«
»Der Kaiser schlug ihn vor Vara«, sagte Sinsala leise. »Dann ließ er Adris niederbrennen. Nur die Burg blieb stehen als ein Mahnmal. Auf dieser Terrasse, die heute seinen Namen trägt, wurde Vinnor gefesselt und von den Bathaquari geopfert … dem Gott Tathril. Alle Überlebenden mussten mit ansehen, wie die Priester seinen Leib zerstückelten und das Blut an den Mauern herablief.« Sie blickte Levaste fest in die Augen. »Vinnors Tod ist nicht vergessen, auch nicht Adris’ Zerstörung. Niemand wird der Bathaquar folgen!«
Levaste schnalzte abfällig mit der Zunge. »Ts, ts. Starke Worte für einen Luchswelpen. Keiner erinnert sich heute noch an die öden Geschichten, an Vinnor Aldra oder das Kaff Adris! Hat nicht deine Familie Adris
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