Splitternest
Burghof zu kommen, auch die Flüchtlinge. Der sechseckige Platz vermochte die Menschenmasse trotz seiner enormen Größe kaum zu fassen. Breite Mauern umgrenzten ihn; sie verbanden die sechs Gebäude der Burganlage: das Torhaus und den Vogtbau, den Speicher und das Fürstenhaus, den Tempel des Tathril und Vinnors Turm. Klobig erhob er sich über Gehani, seine Wände glatt und grau.
Unterhalb der Zinnen spreizte sich Vinnors Terrasse. Auf ihr war der Rat der Priester zusammengetroffen. Levaste, der Prior, stand am Rand der Terrasse, in seinen Händen eine Messingschale. Er hielt sie über dem Kopf, als wolle er sie Tathril zum Geschenk anbieten. Sein Gesicht war fleckig, in den Haaren schimmerte Schweiß. Die einst weiße Kutte hatte eine schmutzigbraune Farbe angenommen. Der Stoff wirkte spröde und warf Falten, die bei jeder Bewegung knisterten. Denn er war in Blut getaucht, und das Blut war geronnen. Es verlieh dem Gewand das Aussehen einer abgezogenen Tierhaut.
»Warum nur liebt Tathril es so, unser Blut?« murmelte Levaste. Sein Blick war gen Himmel gerichtet. »Warum verlangt er es von uns? Früher habe ich es nicht verstanden. Erst Rumos lehrte mich, dass Tathril die Sphäre selbst ist und die Quellen sein Geschenk an uns Menschen. Durch sie können wir uns die Welt Untertan machen, durch sie können wir auf Gharax bestehen. Aber sie gieren nach unserem Blut. Warum nur, warum? Will Tathril uns ermahnen, dass nur die Stärksten seine Nähe suchen dürfen – die Zauberer der Bathaquar?«
Er kippte die Schale. Ein feines Rinnsal verdünnten Blutes träufelte über den Rand und benetzte sein Gesicht. Er lächelte verzückt.
»Die Goldéi haben die Quellen entfesselt; so prüft Tathril unsere Treue. Es ist die Pflicht der Bathaquar, sie erneut zu zähmen. Mit dem Blut der Schwachen werden wir sie gefügig machen. So wie Durta Slargin werden auch wir auf Wanderschaft gehen. Doch uns wird ein Strom aus Blut vorausfließen, der Gharax reinigt. Blut für Tathril, Blut für die Sphäre … und für Uliman, den letzten Kaiser von Sithar. Er wird das Blut aus den Leibern der Schwachen pressen, mit dem Hauch von Nekon!«
Das Rinnsal versiegte. Levastes Gesicht war besudelt; wie ein rotes Netz bedeckte das Blut seine Züge. Er reichte die leere Schale einem nahe stehenden Priester und blickte in den Burghof hinab.
Eine unheimliche Stille herrschte dort unten. Die Menge blickte zu der Terrasse empor. Gelegentlich schepperten die Rüstungen der Gildenkrieger, wenn sie durch die Reihen schritten. Und dort zerrten zwei Tathril-Priester einen Mann aus dem Tempel, sein Gesicht aschfahl, der Arm mit Tüchern umwickelt. Noch während sie ihn die Stufen hinabschleiften, löste sich der Verband. Blut quoll hervor, spritzte auf die weißen Steine.
»Blut für Tathril, Blut für die Sphäre … sie erkennen es nicht, diese armen Sünder. Sie wissen nicht, welches Opfer die Bathaquar für sie bringt. Wir sind die einzigen, die Gharax nicht aufgeben, die um diese Welt kämpfen, die nicht zulassen, dass die Sphäre uns beherrscht. Eines Tages wird man uns danken. Legenden werden von unserer Tapferkeit künden. Man wird mit Ehrfurcht und Liebe von der Bathaquar sprechen. Aber noch hassen sie uns und fliehen in den Süden, um das Kind mit der goldenen Maske zu suchen. Ja, feige sind sie … sie alle!«
Er fuhr herum. Am Eingang zum Turm wartete ein Mann; Talomar Indris, der Pfortenritter. Er hatte seinen Pelzmantel gegen ein Lederwams vertauscht, die ausgetretenen Stiefel gegen nietenbeschlagene Schuhe. Sein Haar war gekämmt, die Wangen rasiert. Nichts zeugte noch von seiner entbehrungsreichen Flucht aus Imris – bis auf den zerfetzten Handschuh, auf dem der goldene Krebs prangte.
»Tathril muss dich zu uns geschickt haben, Talomar.« Levaste schritt langsam auf den Ritter zu. »So viele haben uns in den letzten Wochen den Rücken gekehrt. Von den achtzig Gildenkriegern, die uns nach Gehani folgten, sind die Hälfte geflohen. Als uns gestern die Kunde von Tarubas Fall erreichte, verschwanden zwölf weitere Männer, mit Pferden und Schwertern und üppigen Vorräten. Vermutlich haben sie sich nach Thoka abgesetzt, diese Narren. Selbst unsere treusten Männer verrieten uns; vier Gildenkrieger, die wir mit den Genederkindern zum Fluss geschickt hatten. Sie ließen die Mädchen einfach zurück und schlugen sich in die Büsche. Ach, diese Feigheit greift um sich! Tathril sei Dank, dass die Luchswelpen nach Gehani zurückfanden. Wir
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