Splitternest
brauchen sie schließlich.« Der Prior seufzte. »Und auch dich brauchen wir, dich und deine Männer; jeden, der ein Schwert führen kann und uns treu ist. Ich weiß wohl, dass die Ritter der Neun Pforten die Kirche verteidigt haben, als sie in schwerer Stunde die Macht auf Aroc übernahm. Solche kühnen Streiter können wir gut brauchen.« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Du warst dabei, als Aroc unterging, nicht wahr? Was ist dort geschehen, Ritter? Haben die Goldéi Imris überrannt?«
»Die Neun Pforten sind gefallen, aber nicht an die Goldéi.« Talomar Imris blickte dem Prior fest in die Augen. Das blutbesudelte Gesicht schien ihn nicht zu stören. »Sie kamen mit Schiffen und drohten Imris einzunehmen. Aber sie waren zu spät. Imris wurde gerettet. Ich habe es selbst gesehen.«
Levaste blickte ihn neugierig an. »Dann waren die Berichte von Arocs Untergang falsch? Die Goldéi haben die Quelle von Imris nicht befreit? Seltsam … ich spürte eine Erschütterung in der Sphäre, die von der Klaue des Winters ausging. Seitdem kann ich die Äußere Schicht dieser Quelle nicht mehr spüren. Und doch sagst du, dass nicht die Goldéi sie entfesselt haben?« Er schüttelte den Kopf. »Viele Geheimnisse hütest du, Pfortenritter. Du musst mir alles darüber sagen. Gibt es einen Weg, den Goldéi zu entkommen?«
»Den gibt es«, antwortete Talomar. »Er ist dornig und verschlungen, aber die Menschen von Imris sind ihn gegangen. Ich werde ihn Euch enthüllen, wenn die Zeit gekommen ist. Bis dahin werden die Pfortenritter Euch zur Seite stehen.«
Der Prior war nun zufrieden. »Wir sind dankbar für jede Unterstützung. Zu viele sind geflohen, anstatt mit uns auf Gharax auszuharren. Doch die Bathaquar wird nicht weichen – nicht den Goldéi und nicht Durta Slargins Plänen.« Er schlurfte zum Rand der Terrasse und sah wieder zu den Menschen hinab. »Heute ist der Tag der Ernte. Das Blut der Schwachen muss fließen, und fehlt ihnen der Mut, dieses Opfer freiwillig zu bringen, werden wir sie dazu zwingen.« Er wischte sich über das rotbenetzte Gesicht. Dann winkte er einen Priester herbei. »Holt die Genedermädchen. Tathril will ihr Luchsblut schmecken, und alle sollen es sehen! Ein neues Zeitalter beginnt. Das Zeitalter der Bathaquar.«
Hjele Geneder schlief. Ihr Gesicht wirkte friedlich, ihr Atem war ruhig. Von was mochte die alte Frau träumen? Von ihrem Sohn Baniter, den sie rief, wenn der Schleier der Umnachtung für wenige Atemzüge beiseite wehte? Von ihrem Mann Gadon, Baniters Vater, der vor vielen Jahren verstorben war aus Verbitterung über seine Verbannung? Träumte sie von vergangenen Tagen, als sie jung gewesen war, eine stolze Frau mit strahlenden Augen, deren Schönheit von allen bewundert worden war?
»Ihr müsst euch verabschieden.« Orusit Geneders Stimme klang kalt. Er hielt sich mit den knöchrigen Händen am Bettpfosten fest. Seine Knie zitterten; sie schienen ihn heute besonders zu plagen. »Sie wird nicht merken, dass ihr fortgeht. Aber im Herzen, da wird sie es spüren, und euch nicht vergessen, niemals.«
Ernst blickte er seine Großnichten an, die vor dem Bett standen. Sie hielten sich an den Händen; Sinsala in der Mitte, Banja und Marisa neben ihr. Marisa weinte. Ihre Finger verkrallten sich im Laken des Betts.
»Können wir Großmutter nicht mitnehmen?« schluchzte sie. »Wir könnten eine Kutsche holen, mit weichen Kissen, und die Diener bitten, sie herauszutragen …«
»Das geht nicht, Kleine«, unterbrach sie Orusit. »Wir müssen froh sein, dass die Priester unsere Geschichte geglaubt haben. Vier Gildenkrieger verschwinden am helllichten Tag, und wir kehren allein nach Gehani zurück und behaupten, sie wären geflohen. Wäre heute nicht dieser scheußliche Erntetag, hätte Levaste diese Geschichte niemals geschluckt. Der Wahn macht ihn unvorsichtig.« Er beobachtete die Mädchen mit Sorge. »Ein Wunder hat eure Mutter nach Gehani zurückgeführt! Ich habe es selbst kaum begriffen, als ich sie im Splitternest sah. Aber wir müssen all das nicht verstehen. Das Zeitalter der Wandlung … seltsame Dinge geschehen, und wir Menschen sind der Sphäre ausgeliefert. Die Hauptsache ist, dass ihr gerettet werdet.« Seine Augen ruhten auf Sinsala. »Ihr seid unsere Zukunft, vergesst das nicht. Gharax mag untergehen, aber der Name Geneder bleibt bestehen. Haltet ihn in Ehren.«
Sinsala trug ein weißes Kleid an diesem Tag. Die Haare hatte sie mit einem Tuch zusammengebunden, die
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