Splitternest
verloren, Hjele.«
Er legte behutsam das Kissen auf ihr Gesicht. Dann schloss er die Augen und lauschte dem heiseren Atem der Frau.
Durch das Fenster fielen Sonnenstrahlen ein. Es war ein schöner Herbsttag, warm und golden. Der Tag der Ernte.
Die Steine tanzten! Sie richteten sich auf wie winzige Messer, streckten die Kanten der Sonne entgegen, klirrten aneinander. Sie schienen an einer unsichtbaren Schnur aufgereiht, die sich in einer Spirale um das Splitternest legte und von verborgenen Händen gezupft wurde. Die Sphäre wogte stark an diesem Ort, ihre Ströme flossen wild und wurden von keiner Quelle gezähmt.
Jundala Geneder hockte in der Mitte des Kraters. Ihre Augen blitzten im Sonnenlicht. Sie war in Gedanken versunken; die Knie waren angewinkelt, sie hielt sie mit den Armen umschlungen. Ihr Haar wehte im Wind; blonde, zerzauste Locken. Winzige Splitter glitzerten in ihnen.
Wie schwach ist der menschliche Wille, dachte sie. Erführt uns an jeden Ort, nur nicht in die Freiheit. Wir folgen den Spuren, die vor uns aufglimmen, und fragen nicht danach, wohin sie führen. Wir folgen ihnen blind.
Sie dachte an Laghanos, das Kind mit der goldenen Maske; an ihre Begegnung auf der Barke der Südsegler. Wie rasch hatte sie sich seiner Macht gebeugt. Süß waren seine Versprechen gewesen … deine Kinder – sie leben … ich werde dich zu ihnen bringen … und sie hatte sich ihm unterworfen. So muss es immer gewesen sein, wenn Menschen am Scheideweg standen. Am Ende zählt allein der Wunsch, die eigene Haut zu retten und die der Liebsten. Ich hätte Laghanos widersprechen können! Ich hätte mich weigern können, nach Gharax zurückzukehren. Aber ich tat es nicht. Der Wunsch, ihre Töchter wieder zu sehen, war stärker gewesen. Sie war der Spur gefolgt, die Laghanos in der Sphäre hinterlassen hatte. Damit hatte sie ihn als Herrscher des kommenden Zeitalters anerkannt, so wie all die anderen Menschen.
»Und ich würde es wieder tun«, flüsterte sie. »Ich würde alles tun, um meine Kinder wieder zu sehen. Du hast meinen Willen gebrochen, Laghanos. Mein Schicksal liegt in deinen Händen.«
Sie lauschte. Hörte sie Geräusche jenseits des Kraters? Nein, nur das Prasseln der Steine, das Scharren und Mahlen am Rand des Splitternests. Banja und Marisa, ihre Kätzchen … wo waren sie? Schon verfluchte sich Jundala dafür, sie nach Gehani zurückgeschickt zu haben. Sie hatte mit Orusit Geneder gesprochen, dem Onkel ihres Mannes, und er hatte sie überredet, noch einen Tag hier zu warten. Denn um auch Sinsala aus der Gewalt der Priester zu befreien, mussten sich diese in Sicherheit wiegen. So war Orusit mit den beiden Mädchen nach Gehani zurückgekehrt, um kein Misstrauen zu erregen.
Hätte ich selbst gehen sollen, um Sinsala zu retten? Nein, ich hätte versagt … ich kann das Splitternest nicht verlassen. Die Sphäre hielt sie an diesem magischen Ort fest; ihre Augen brannten wie Feuer, und näherte sie sich dem Rand des Kraters, schnürte sich ihre Kehle zusammen, dass sie kaum atmen konnte. Laghanos befahl mir, die Menschen aus Gehani zu holen, sie durch die Sphäre zu ihm zuführen. Wusste er nicht, dass ich zu schwach für diese Aufgabe bin? Warum schickte er mich, anstatt selbst zu gehen?
Sie kannte die Antwort. Laghanos fürchtete die Priester aus Gehani, die Macht der Bathaquar. Und dies erzürnte sie am meisten: dass er, dem sich die Menschen anvertrauten, im Innersten seines Herzens feige war. Er trat nicht offen für seine Pläne ein, täuschte über seinen Namen und seine Ziele hinweg, verbarg sich hinter Masken und dem Antlitz eines Kindes. Sein ganzes Streben war durchdrungen von Feigheit. Und doch legten die Menschen ihr Schicksal in seine Hände. Wussten sie es nicht besser? Ahnten sie nicht, dass auch auf der neuen Welt, die er ihnen versprach, die alten Ungerechtigkeiten sprießen würden? Auch dort hatte er den Keim der Niedertracht gesät, die ihm die Herrschaft sicherte.
»Geblendet hast du uns«, zischte Jundala, »und wir danken dir noch dafür! Es ist so viel einfacher, die Welt aus deinen Augen zu betrachten, als selbst in die Zukunft zu blicken.«
Sie hob den Kopf und schaute in die Sonne. Die grellen Strahlen konnten ihren Augen nichts anhaben; sie spiegelten sich in den goldenen Pupillen.
»Hörst du meine Worte, Laghanos? Ich habe mich dir ergeben, ich gehöre ganz dir. Bring mir nur meine Mädchen zurück. Dann werde ich zu dir zurückkehren. Das willst du doch, nicht wahr?
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