Splitternest
die Klippenritter ihn nicht hören konnten: »Die Stadt ist verloren, ganz gleich, was Binhipar sagt. Ich muss fort! Wenn du mir tatsächlich so treu bist, wie du sagst, musst du mich fortbringen.«
»Steht wieder auf, Majestät«, verlangte einer der Klippenritter streng. »Die Menschen wollen Euer Antlitz sehen!«
Akendor krallte sich an Garalacs Hemd fest. »Hole mich hier raus«, fuhr er leise fort. »Ich muss zur Toteninsel, zum See Bredayn. Ich möchte noch einmal, ein letztes Mal, die Ruhestätte meiner Gattin sehen. Ich war so lange nicht an Syllanas Grab … ich habe es vermisst.«
»Das kann ich nicht!« Garalac schielte nach den Klippenrittern, die sich miteinander berieten. »Es wäre zu gefährlich.«
»Wenn du mir nicht hilfst, gehe ich selbst. Fort aus dem Turm. Fort aus meinem Leib, aus meinem elenden Leben.« Lächelnd deutete er auf sein Herz. »Ich kann es tun. Feige haben sie mich genannt, die Fürsten. Aber dies … diese letzte Tat … kann ich tun. Es wäre kein Opfer für mich.«
»Steht auf!« Der Klippenritter hatte das Ruder aus der Hand gelegt. »Oder sollen wir dem Fürsten berichten, wie Ihr Eurem Volk den Rücken zuwendet?«
»Denkt an das Badhaus, Akendor«, höhnte der zweite Ritter. »An die Hunde!« Er imitierte ein Knurren und lachte.
Akendor blickte immer noch auf Garalac, sein Blick klar wie selten. Dann stand er wieder auf und drehte sich zu den Menschen um.
»Bürger von Vara«, schrie er zum Ufer hinüber. »Rüstet euch! Habt keine Furcht! Der Kampf um die Stadt beginnt … schon bald …«
Die übrigen Worte gingen im Toben der Menge unter. Und über ihm zog der Mond seine Bahnen; ein riesiges Auge, das die sterbende Stadt betrachtete.
KAPITEL 3
Entfesselung
Ein Raunen, kaum zu hören … eine Stimme sprach aus den Steinen, ohne Hast, ohne die Worte hervorzuheben, fast so, als läse sie aus einem Buch vor. Hielt man den Atem an und lauschte, konnte man sie hören – oder war dies nur Einbildung? War das Raunen eine weitere Täuschung des Verlieses?
Geheimnisvoll waren die Gänge, unergründlich erstreckten sie sich unter Vara – und nicht nur dort. Raum und Richtung hatten in diesem Irrgarten keine Bedeutung. Das Verlies der Schriften war überall und nirgends, es führte zu jedem Ort von Gharax und rückte entfernte Gegenden aneinander. In jeder alten Stadt, ob sie bewohnt war oder in Trümmern lag, öffnete sich ein verlassener Keller, eine trockene Zisterne, eine verschüttete Treppe den Gängen des Verlieses. Nur Eingeweihte konnten diese Tore finden: die Anhänger Mondschlunds. Das Verlies war ihr Werk; erbaut von Mondschlunds Schüler Varyn, gewachsen über Jahrhunderte … Die Gänge waren gewuchert wie ein Pilzgeflecht im Erdreich. Und während hinter den Mauern eine Stimme raunte, dass eine riesige Stadt auf Gharax erblühen werde, stieß das Verlies durch die dünne Schicht, die es noch von der Wirklichkeit trennte.
Getrippel, Getrappel, pitsch patsch, kleine Füßchen in modrigen Pfützen, ein Schnauben, ein Knurren, ein Schnüffeln, ein Schnuppern … so flitzten Grimm und Knauf durch den Gang, zwei Kieselfresser fern ihrer Heimat. Weit hinter ihnen folgte Cornbrunn, der kaum Schritt halten konnte.
»Wartet doch!« Keuchend blieb der Troubliner stehen und lehnte sich gegen das Gemäuer. Durch das Hemd spürte er feuchtes, weiches Moos; es wucherte überall auf den Steinen, und Cornbrunn war froh darüber. Denn es strahlte ein schummriges, grünes Licht aus, so dass er zumindest nicht in völliger Finsternis wandelte.
»Bleibt endlich stehen, ihr kleinen Ratten!« Cornbrunn tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Magen fühlte sich an wie Blei, seine Knie waren weich. Seit Tagen hatte er nichts mehr gegessen; ein paar Brotkrumen aus seinen Taschen waren die letzte Mahlzeit gewesen. Durstig war er obendrein; er hatte zwar aus einer Pfütze getrunken, die verhältnismäßig sauber gewirkt hatte, aber das hatte wenig geholfen.
»Nun ist es wohl Zeit, zu sterben – allein, verlassen, ohne Aelarian eine letzte Frechheit ins Ohr zu raunen. Wie erbärmlich.« Er hatte keine Hoffnung mehr, den Großmerkanten wieder zu finden. Aelarian war verschwunden, nicht einmal die Kieselfresser hatten ihn mit ihren feinen Naschen aufgespürt. Auch der Schattenspieler hatte sich nicht mehr blicken lassen.
»Besser so … der Kerl ist an allem schuld.« Cornbrunn raffte sich auf und folgte dann wieder Grimm und Knauf, die hinter der nächsten
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