Splitternest
DAS VERLIES ZU SCHAUEN … NUN STEIGT ES EMPOR. DER LETZTE ERBE DER GRÜNDER LIEST AUS DEM BUCH, UND SEINE WORTE FORMEN DIE STADT ALLER STÄDTE!«
Der Große Ejo sank auf die Knie. Tränen flossen aus seinen Augen. Vor ihm erhoben sich die Anub-Ejan, unbeholfen wie Kinder, die zum ersten Mal auf eigenen Beinen stehen. Ihre Augen waren ausgefranste, leere Höhlen. Schon glomm der goldene Funke in ihnen …
»Haltet meine Hand, Ejo«, hörte der Schechim Inthara flüstern.
Er tastete nach ihren Fingern. Spürte die Kälte der schwarzen Brocken, die Haut und Fleisch der Königin durchdrangen. Er schloss die Augen.
»DIE HERRSCHAFT DES KINDES BRICHT AN! LASST UNS DABEISEIN, WENN ES DAS MONDLICHT ERBLICKT!«
Und dann war ein Weinen zu hören, der zarte Schrei eines neugeborenen Kindes … gestoßen in eine feindliche Welt, die es zwang, seine Augen zu öffnen; Augen, die es lange geschlossen hatte. Nun musste es die Lider aufschlagen.
»ÖFFNET DIE AUGEN UND SEHT!«
Ejo blickte auf, sein Gesicht starr vor Entsetzen. Vor ihm ein Meer aus glimmenden Augen, die das blutige Lager der Königin betrachteten. Und in den Armen der Raquai-Priesterin, die vor Inthara kniete, strampelte ein blutüberströmtes Kind, durch eine bläuliche Nabelschnur noch mit der Mutter verbunden. Mit winzigen Fäusten schlug es um sich und schrie seinen Schmerz in die Nacht hinaus.
»ein Mädchen«, sagte die Raquai-Priesterin mit heiserer Stimme. Ihre Augen funkelten wie die goldenen Dächer von Praa. »es ist ein Mädchen!«
Noch immer jubelten sie. Sie schwenkten die Fackeln, riefen Akendors Namen, priesen ihn mit einer Inbrunst, die etwas Gespenstisches hatte. Immer mehr Menschen drängten zum Stillen See und sammelten sich am Ufer. Die Nachricht, dass der Kaiser den Turm verlassen hatte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Vara, trotz der späten Stunde. In dieser Stadt schlief niemand mehr, solange die Schatten umherspukten. Ziellos irrten die Menschen umher, auf der Suche nach einer Erklärung für den Schrecken, und auf der Suche nach Hoffnung. Glaubten sie tatsächlich, dass ein Kaiser diese Hoffnung in ihnen erwecken könnte … ein Kaiser, den sie einst verlacht und vergessen hatten?
»Sie rufen nach mir wie Kinder.« Akendor stand aufrecht in dem kleinen Boot, das vor der Eisernen Insel im Wasser schaukelte. Die zwei Klippenritter ruderten mit langsamen Schlägen, ihre Augen waren auf das Ufer gerichtet. Auch Garalac saß im Boot. Sein Blick verriet Unruhe, er kniff immer wieder die Augen zusammen, als könnte er nicht glauben, was dort geschah: Hunderte huldigten Akendor Thayrin, und jeder Ruf seines Namens, jeder verzückte Aufschrei aus der Menge war ein Ausdruck der Verzweiflung.
»Sie sind wie unmündige Kinder, ja.« Der Kaiser strich sich den Mantel glatt. Die Klippenritter hatten ihn Akendor gegeben, bevor sie ihn zum Boot geführt hatten: den schwarzen Kaufmannsrock, durchwirkt mit Silberfäden. Es war das Gewand der Gründer, der Mantel des Südbunds. Lange hatte Akendor ihn nicht mehr getragen, zuletzt an dem Tag, als er ein kleines Mädchen in den Armen gehalten und in seiner Rachsucht fest an sich gedrückt hatte, zu fest, zu fest, ihr Gesicht gegen den schwarzen Mantelstoff, zu fest …
»Sie jubeln mir zu. Mir! Wissen sie nicht, wer ich bin? Wissen sie nicht, was ich tat? Suena … arme, kleine Suena.« Akendor winkte den Menschen unsicher zu. Ihr Jauchzen wurde lauter. »Habe ich soeben zu ihnen gesprochen? Habe ich wirklich meine Stimme an sie gerichtet?« Er wankte.
»Ihr wart großartig«, versicherte Garalac. »Ihr habt ihnen Mut gegeben und geschworen, sie in den Kampf gegen die Schatten zu führen. Es war eine große Rede! Sie war eines Kaisers würdig.« Er zog Akendor zu sich auf die Ruderbank. »Euer Vater wäre stolz auf Euch gewesen.«
Akendors Mundwinkel zuckten. Er blickte zum Turm auf der Eisernen Insel. Im oberen Fenster flackerte das Licht einer Laterne.
»Ja, mein Vater wäre stolz gewesen. Ich habe alles gesagt, was auch er gesagt hätte. Jedes Wort eine Lüge.« Er hielt sich an Garalacs Schulter fest. »Es ging mir leicht von den Lippen. Diese Leute glauben alles, was man ihnen sagt. Sie jubeln mir zu, so wie sie in Persys meinem Sohn zugejubelt haben; oder wie Norgon Geneder, als er die Macht über Sithar ergreifen wollte. Sie werden immer jemandem zujubeln, bis zu dem Tag, da die Goldéi ihnen die Köpfe abreißen.« Er rückte dicht an Garalac heran. Dann flüsterte er, so dass
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