Splitternest
entreißen kann! Komm ins Licht!«
Cornbrunn wollte einen Schrei ausstoßen. Doch ein Windhauch fuhr über seinen Rücken, und eine Hand legte sich von hinten auf sein Gesicht. Der Griff war so stark, dass er jeden Laut erstickte.
Der Knabe lauschte. Doch als er nichts vernahm, stieß er ein enttäuschtes Zischen aus. »Nein … wieder nur Schatten, nichts als Schatten, die mich täuschen.« Er warf sich ganz ins Wasser. Eine Fontäne spritzte bis zur Decke empor, und in ihr wirbelte schwarzes Gefieder.
Noch ehe die letzten Tropfen auf die Wasseroberfläche prasselten, hatte das Kind sich ganz in den Schwan zurückverwandelt. Mit schrillem Kreischen floh er zurück in den Gang. Seine Flügel zogen Wasserschlieren hinter sich her.
»Still, meine Freunde«, wisperte eine Stimme hinter Cornbrunn. »Noch kann er uns hören!«
Cornbrunn fuhr herum. Hinter ihm hatte sich eine Öffnung im Mauerwerk aufgetan. In ihr stand der Schattenspieler. Die Haare standen wirr von seinem Kopf ab. Er blinzelte Cornbrunn zu.
»Da bist du endlich, Cornbrunn. Das Verlies ist groß, es war schwer, dich zu finden.«
Die Kieselfresser quiekten in Cornbrunns Kleidern auf. Schon purzelten sie aus seinen Ärmeln, um den Ankömmling fiepsend zu umtanzen. Cornbrunn konnte ihre Freude nicht teilen.
»Aldra! Habt Ihr Euch die ganze Zeit hinter mir versteckt? Wolltet Ihr beobachten, was dieses Biest mit mir anstellt?« Er packte das Rüschenhemd des Schattenspielers. »Wo kommt Ihr her? Und wo, bei allen Schatullen der Großgilde, ist Aelarian?«
Der Schattenspieler ließ einen Scherenschnitt sinken, den er in der linken Hand gehalten hatte. »Nur ruhig, Cornbrunn. Du wirst alles erfahren. Doch erst musst du erzählen, was der Schwan zu dir sagte, bevor ich aus den Schatten trat. Denn diesmal, meine Freunde, steht das Schicksal von Tausenden auf dem Spiel.«
Der Funke wanderte über den Handrücken, dunkelrot wie die letzten Strahlen des Sonnenuntergangs, huschte am Zeigefinger entlang bis zur Fingerkuppe. Dort verschmolz er mit dem Fleisch. Eine Flamme tropfte herab. Zischend traf sie auf die Treppenstufe.
Der Stein glühte auf. Eine Hitzewelle jagte die Treppe hinab, und das Gestein begann zu brennen. Rauchschwaden kräuselten sich in die Luft. Die Stufen verformten sich, ihre Kanten zerflossen; und nun stieg Nhordukael sie empor. Seine bloßen Füße hinterließen tiefe Abdrücke … die Zeichen seiner Macht über das Feuer, über das Gestein, über die Sphäre.
Am Ende der Treppe hielt er inne. Hier erhob sich eine Tafel aus schwarzem Metall, dunkler als Kohle. Der Schwarze Schlüssel … aus ihm ragte eine bizarre Skulptur: das Gesicht eines Mannes. Die Züge waren erstarrt, die Augen gesenkt. Darunter zwei Hände, schwarz und reglos. Sie hielten ein Buch.
Der Mund der Skulptur bewegte sich. Die Lippen zitterten, und eine Stimme war zu hören; ein Raunen. Die Worte entstammten einer Sprache, die Nhordukael nie zuvor vernommen hatte; oder es waren sinnlose Laute, sinnlos wie alles hier im Verlies der Schriften.
»Er liest. Jedes seiner Worte formt die Stadt. Das Verlies erwacht. Die Mauern sinken in den Staub. Die prächtigen Türme erscheinen an der Oberfläche. Sie erobern die Welt.
Gedanken gerinnen zu Glas. Ein Traum wird Wirklichkeit.«
Vor der Tafel kauerte ein zweiter Mann mit schütterem Haar. Asche hatte sein schlaffes Gesicht geschwärzt, sein Hemd war zerrissen und an vielen Stellen verbrannt. Sardresh von Narva, der Baumeister der sitharischen Kaiser, kniete auf der obersten Treppenstufe; sie war noch nicht von der Glut erfasst worden. Ein Lederhut saß schräg auf seinem Kopf und drohte jeden Augenblick herabzufallen. Sardresh war zu beschäftigt, um sie zurechtzurücken. Zärtlich streichelte er die Hände der Skulptur.
»Es geschieht tatsächlich! So wie Mondschlund es wollte. Die Stadt aller Städte ist kein Traum mehr. Kein bloßer Wunsch. Die Zuflucht der Menschheit hat ihre Tore geöffnet. Die letzte Siedlung von Gharax. Das wiedererweckte Athyr’Tyran.« Verzückt blickte Sardresh zu Nhordukael auf.
Der Anblick des jungen Priesters war furchterregend. Nhordukaels Körper war von Flammen umzuckt, die Adern glühten unter der papiernen Haut, seine Augen schienen aus Feuer, und von den Lippen lösten sich ständig Ascheflocken und wirbelten empor. In ihm tobte die Kraft des Brennenden Berges, die Magie des Auges der Glut. Das Feuer in seinen Adern pochte so heiß wie lange nicht mehr. Doch bislang konnten
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