Splitternest
nicht lesen! Ich will aus dem Buch nicht lesen! Ich will …
»Ich will aus dem Buch nicht lesen!«
Er brüllte die Worte in die Finsternis. Seine Augen lösten sich von der Luchsschrift.
Um ihn war Dunkelheit. Seine Kehle fühlte sich trocken an, kratzig.
»Dann höre einfach auf damit«, antwortete jemand. »Du wiederholst dich ohnehin die ganze Zeit.«
Baniter blinzelte. Er wollte das Buch sinken lassen, aber die Hände gehorchten ihm nicht.
Jemand sang in seiner Nähe mit hoher, süßlicher Stimme. Die Melodie schien den Schmerz einer ganzen Welt zu umfassen. Und zu Baniters Rechten erklang scharrender Atem. Nun, da seine Augen sich langsam an das Dunkel gewöhnten, sah er mehrere Schemen um sich.
»Aber du hast schön gelesen, Baniter Geneder«, lobte die Stimme, die zuerst gesprochen hatte. »Ein wenig lieblos zwar, aber es war ein Vergnügen, dir zu lauschen. Ich schätze eine gute Erzählung.«
»Wo bin ich?« stieß der Fürst hervor. Er versuchte sich zu orientieren. Offenbar saß er auf einem Schemel, konnte weder Beine noch Arme bewegen. Vor ihm lag das Buch auf einem steinernen, langen Tisch. Er erinnerte Baniter an die Tafel im Ratssaal von Thax, Sithars untergegangener Hauptstadt, die Nhordukaels Flammen verschlungen hatten.
»Wo bin ich?« fragte er nochmals.
Ihm gegenüber wurde eine Kerze entzündet. Sie ließ ein Gesicht aus der Finsternis hervortreten: dunkle, ledrige Haut. Krauses Haar, das unter einer Flickenhaube hervorquoll. Ein spärlicher Bart, der einen schmallippigen Mund umgab. Dieser formte ein Lächeln.
»Wo du bist, Baniter Geneder? Wohl noch immer im Verlies der Schriften, möchte ich meinen – in Mondschlunds schauriger Stadt. Und auch wieder nicht … die Sphäre ist kein Ort, an dem man sich wirklich befindet. Niemand weiß das besser als ich.« Der Mann schmunzelte. Er hob die Hände. Sie waren mit silbernen Ketten gefesselt. Dennoch gelang es ihm, einen Krug zu ergreifen. Er goss eine zähe Flüssigkeit in einen nahe stehenden Becher und schob ihn zu Baniter hinüber.
»Du wirst durstig sein nach der Leserei. Hier, Baniter, es wird dir gut tun. Und keine Angst, es ist harmloser Wein. Niemand hat Atemfänger hineingeträufelt wie damals in Praa.«
Immer deutlicher waren die übrigen Gestalten am Tisch zu erkennen, wohl ein Dutzend. Sie kauerten wie Baniter auf Schemeln. Ihre zerschlissenen Mäntel wurden von einem heißen Wind aufgeweht, der durch den Saal strich. Baniter spürte ihn selbst im Nacken, an den Händen und Füßen. Er trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.
»Willst du denn nicht trinken?« Der bärtige Mann schüttelte bedauernd den Kopf, so dass die Fetzen der Flickenhaube um seine Schläfen tanzten. »Natürlich, wie dumm von mir! Du kannst ja die Hände nicht bewegen. Der Schwarze Schlüssel hält sie fest. Er kann sehr einnehmend sein.« Er winkte gönnerisch mit der Hand. »Cladimor, sei so gut und spiele den Mundschenk für den künftigen Kaiser von Vara. Es soll nicht heißen, Durta Slargin habe ihm nicht die nötige Ehre erwiesen.«
Nun erst bemerkte Baniter den Mann, der neben ihm saß; das Gesicht faltig, die Augen gerötet. Er hielt eine Sternkarte in den Händen, doch diese war verblasst. Nun krallten sich seine Finger in das Papier und zerfetzten es. Erst dann fuhr er zu Baniter herum, packte den Kelch, hob ihn mit zitternder Hand.
»Du wirst ihn nicht kennen … Cladimor, ein Schüler von mir, der vor Jahrhunderten auf Gharax gelebt hat. Er hat für mich eine Weile den Leithammel der Malkuda gespielt, eine der magischen Logen. Eine wichtige Aufgabe! Du weißt ja, Baniter, wie tölpelhaft sich Menschen verhalten, sobald man ihnen ein Quentchen Macht in die Hände gibt. Sie neigen dann zum Größenwahn und brauchen eine straffe Führung.« Der Dunkelhäutige nickte zufrieden. »Was verziehst du das Gesicht, Cladimor? Du hast die Malkuda gut gelenkt nach meinem Tod, auch wenn ich dir freilich etwas dabei geholfen habe. Du konntest mich immer um Rat fragen. Ein Blick zum Himmel, ein Blick auf die Sterne – schon wusstest du, was zu tun war. Sternengänger hat dich nie ohne eine Antwort zurückgelassen.«
Cladimors Hand bebte. Wein spritzte über den Rand des Kelchs und klatschte auf das Buch. Er wusch die noch nassen Worte zwischen den Luchszeichen fort.
»Durta Slargin«, sagte Baniter Geneder. Er klang gefasst. »Der Bezwinger der Quellen, gefesselt mit silbernen Ketten – so, wie ich ihn damals im Traum sah. Allerdings ohne einen
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