Splitternest
wie die anderen Geister die Sänfte erklommen. Den goldenen Harnisch packten und vom Thron hoben.
»… SO WIE MONDSCHLUND ES WILL …«
Baniter las.
Das Pergament knisterte in seinen Händen; spröde Seiten, die Ränder gewellt. Seine Finger huschten über die Zeilen und spürten den Luchszeichen nach: goldenen Punkten und Häkchen, Schnörkeln und Strichen, hauchdünnen Bögen und Linien. Doch die Worte, auf die sie sich bezogen, waren unsichtbar. Nur er konnte sie sehen und lesen, nur er konnte jene Geschichte erzählen, die niemand aufgeschrieben hatte. Indem er sie las, erschuf er sie erst, und in dem Buch formten sich Worte, kaum dass er sie aussprach: in blutroter Tinte erschienen sie auf dem Pergament und wurden sogleich von der Luchsschrift umspielt, umschmeichelt, mit neuer Bedeutung aufgeladen …
Baniter las.
Er las die Geschichte der Stadt Vara; einer Stadt, die in einem finsteren Zeitalter errichtet worden war, auf Befehl eines Kaisers. Sein Name hatte Baniter Geneder gelautet, und dieser mächtige Herrscher hatte zum Schutz vor grässlichen Echsenwesen eine Mauer um Vara gezogen, die niemand überwinden konnte. Denn vor den Toren hatte ein Krieg zwischen den Geistern der Sphäre getobt, und der Kaiser hatte seine Untertanen vor den Kämpfen bewahren wollen. Er hatte auf einem goldenen Thron Platz genommen, ihm zur Seite seine junge Gemahlin Inthara … die fleischgewordene Sonne, schön wie das Licht selbst. Sie hatte ihm ein Kind geboren, und Baniter hatte es dem Gott Nhordukael geweiht, der als Beschützer von Vara galt. Der Gott Nhordukael, so besagte die Legende, hatte am Beginn der Zeit einen Dämon namens Tathril besiegt und ihn mit dem Mond vom Himmel verbannt. In zahllosen Tempeln, einer prächtiger als der andere, wurde Nhordukael gehuldigt; und die Nachfahren von Baniter und Inthara, diesem gottgleichen Paar, herrschten über die Stadt, weise und edel, gütig und tapfer. Sie, die Geneder, schützten Vara vor der Außenwelt, und die Stadt wuchs und gedieh … Vara, Stadt aller Städte, prunkvoll wie nichts auf der Welt. So hatte das Zeitalter des Friedens begonnen, ohne Leid und Hunger, ohne Krankheit, ohne Tod …
Baniter las.
Und während er las, sträubte sich alles in ihm. Er wollte die Lippen aufeinander pressen und schweigen, sich selbst das Wort verbieten. Doch der Bann des Buchs war zu groß. Er musste die Luchszeichen entziffern. Er musste die Geschichte lesen, auch wenn er es kaum ertragen konnte, sie aus dem eigenen Munde zu hören.
Und so las er von dem Kaiser, der seinen Namen trug. Las von seiner Gemahlin, die nicht Jundala hieß, sondern Inthara … die arphatische Königin, die er begehrte und zugleich fürchtete. Las von dem Kind, das er mit Inthara gezeugt hatte, damals in Praa; und er konnte nicht mehr zwischen Wahrheit und Dichtung unterscheiden.
Will ich über Vara herrschen, über Sithar, über Gharax? War es das, was mich in all den Jahren antrieb? Habe ich mich deshalb von der Königin verführen lassen? Denn ich wusste, dass sie es war, die im Norfes-Tempel zu mir ins Bett kroch, natürlich wusste ich es … nicht einmal Jundala habe ich es gestanden, habe mir selbst eingeredet, es wäre ein Traum gewesen. Aber ich wusste, dass Inthara ein Kind von mir im Leib trug. Wollte ich, dass dieses Kind den Thron in Vara erklimmt, um über Sithar und Arphat zu herrschen? Dass die Welt den Namen meiner Familie raunt, dass Legenden von Baniter Geneder und seinen Nachkommen erzählt werden?
Baniter las.
Die Worte kamen ihm immer verlogener vor, seine eigene Stimme wurde ihm fremd. Wo bist du? Wie kamst du hierher? Wer hat dir das Buch in die Hand gedrückt? Gedankenfetzen huschten in seinem Kopf umher: das Verlies der Schriften. Sardresh der Schwärmer, der ihm kichernd den Schwarzen Schlüssel gezeigt hatte. Eine freistehende Treppe, an deren Ende eine Tafel aus schwarzem Metall auf ihn wartete. Eine Stadt aus gläsernen Türmen. Bathos der Scharfzüngige, gefesselt an einem Pfahl, verspottet von der Menge. Kinder, die ihn aus goldenen Augen anstarrten. Und das Buch, das schwere Buch in seinen Händen, dunkel und magisch; der Schwarze Schlüssel, in seinen Fingern zu Worten geronnen.
Baniter las.
Selbst wenn ich insgeheim davon träumte, über Sithar zu herrschen, selbst wenn mich mein Ehrgeiz trieb … wollte ich, dass dies alles wahr wird? Wollte ich diese Geschichte erzählen? Habe ich nicht mit lauter Stimme widersprochen und gerufen: Ich will aus dem Buch
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